Dann öffnete sie die Schachtel, entnahm ihr ein weißes Brettchen, auf dem verschiedene kleine Figuren und Gegenstände angeordnet waren, und deponierte es auf dem Tischchen.
Die Schachtel stellte sie umgekehrt auf den Teppich, legte den Deckel so darauf, dass die Ränder nach oben schauten, und machte aus einigen Feueranzünderröllchen in der Mitte ein kleines Reisigbett, auf das sie vorsichtig ihr Opferbrettchen hob. Danach zupfte sie Salbeiblätter von einem verdorrten Zweig, den sie bei sich hatte, und verstreute sie auf dem Brett. Jetzt zog sie ein Briefchen Streichhölzer hervor, doch bevor sie eines entflammte, sagte sie zu Manuel: »Doctor, jetzt gut Idee, was du wollen, bien?«
Manuel nickte und murmelte kleinlaut: »Bien, bien.«
Und als nun ein kleines Schmorfeuerchen zu brennen begann, über dem Mercedes, die im Schneidersitz danebensaß, ihren Salbeizweig so schwenkte, dass sich ein feiner Rauch gleichmäßig im Zimmer verteilte, ein Rauch, der überraschend gut und würzig duftete, überlegte sich Manuel, was er eigentlich wollte, und natürlich wusste er das schon lange, auch ohne dass eine Indiofrau mit einem Zweiglein in seinem Zimmer herumwedelte. Er wollte Klarheit darüber, wer Anna war. Dann würde vielleicht auch wieder Ruhe in seinem Ohr einkehren.
Durch den Opfernebel des Altiplano schaute er auf den Zürichsee hinaus, an dessen Ufern nach und nach die Lichterketten angingen und über den ein festlich beleuchtetes Ausflugsschiff glitt. Ein bleicher Halbmond hing so fern am Himmel, als sei er mit der Erhellung anderer Welten beschäftigt.
»Gut Idee, doctorcito?« fragte die Stimme aus Bolivien.
Manuel nickte lächelnd. »Gut Idee, Mercedes.«
Dann stützte er seinen Kopf auf die Hände und schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, stand Mercedes vor ihm. Die Biscuitschachtel war geschlossen und stand auf dem Tischchen, die Bücher waren ins Regal geräumt. Immer noch hing ein feiner Nebel im Zimmer, und immer noch roch er betörend gut.
Mercedes hielt ihm einen gelben Umschlag hin.
»Estaba detrás de los libros«, sagte sie und deutete auf die unteren Reihen des Büchergestells. »Documentos?«
»Gracias«, sagte Manuel, nahm ihn und legte ihn auf den Tisch, »muchas gracias.«
»De nada, doctor, de nada«, sagte Mercedes, »qué Dios te bendiga«, küsste ihn auf die Stirn, ging dann zum Tischchen, nahm die Schachtel an sich und verließ das Arbeitszimmer.
Manuel blieb eine ganze Weile im Halbdunkel sitzen. Er war schon lange nicht mehr so ruhig und entspannt gewesen.
Endlich zündete er seine Tischlampe an, musste sich ein paar Sekunden an das Licht gewöhnen und machte dann den gelben Umschlag auf.
Darin war der Brief.
Bevor er ihn öffnete, horchte er auf. War das möglich, dass im Garten um diese Zeit noch Krähen krächzten?
Das Fest löste sich langsam auf.
Man hatte sich zum 80. Geburtstag von Julias Mutter in einem Ausflugsrestaurant zusammengefunden, dessen bis auf den Boden reichende Fenster den Blick auf den oberen Zürichsee freigaben, auf die Berge, die sich von seinem südlichen Ufer erhoben, Etzel, Fluhbrig und Aubrig, und die Kette der Glarner und Innerschweizer Alpen dahinter, vom Glärnisch über den Drusberg und den Clariden bis zum weißglänzenden kleinen Dreieck des Titlis.
Als die Kellnerin mit der großen, aufgeklappten Sperrholzschachtel um den langen Tisch herumgegangen war, hatten sich Julias Vater und Mutters Bruder und auch Julias Bruder eine der Havanna-Zigarren daraus gegriffen und trotz der sanften Proteste von Julias Mutter angezündet, und ein feines Gewölk begann nun die obere Tischhälfte zu überziehen; mit den Sonnenstrahlen, die sich darin brachen, sah es aus, als ob sich ein Tiefdruckgebiet ankündige, und das schöne Wetter draußen machte den Aufenthalt im Säli immer unerträglicher.
Die jungen Menschen hatten bereits die Flucht ergriffen und vergnügten sich in der Minigolf-Anlage, die zum Gelände des Restaurants gehörte. Thomas hatte, auf die ausdrückliche Einladung seiner Mutter, Anna mitgebracht, und sie, Mirjam und ihre beiden Cousinen Ladina und Luisa schoben die Bälle nun lachend über den Parcours von künstlichen Bodenwellen, gekrümmten Rampen und läppischen Teichlein, nicht weil sie passionierte Golferinnen gewesen wären, sondern weil es da oben die einzige Vergnügungsmöglichkeit war. Thomas begleitete sie mit einem Notizblock, in dem er ihre Resultate aufschrieb.
Indessen verharrte die Gruppe der ältesten und der Viererklub der nächsten Generation im Zigarrendunst, denn es wurden nun noch Schnäpse und Liköre angeboten. Julias Tanten, die zwei Schwestern ihres Vaters, bestellten sich beide einen Grand Marnier, Julias Onkel, Mutters Bruder also, entschied sich fröhlich für einen Grappa, und Julias Vater wollte den Quittenschnaps probieren, der hier als Spezialität galt, nur Julias Mutter verlangte einen Pfefferminztee. »Fährst du?« fragte Julias Bruder Gino seine Frau Letizia und schloss sich dann der Quittenschnapsbestellung an, während sowohl Julia als auch Manuel bei ihrem Mineralwasser blieben.
»So bleibt man schlank, nicht?« scherzte Julias Bruder, »täusche ich mich, oder hast du abgenommen?« fragte er seinen Schwager Manuel.
»Kann schon sein«, antwortete Manuel, »weißt du, was ein Hometrainer ist?«
»Siehst du, das täte dir auch gut«, sagte Letizia zu ihrem Mann, der nun mit gerötetem Blick eine Havanna-Wolke ausstieß und zufrieden auf den Quittenschnaps schaute, der ihm eingegossen wurde. »Bis zum zweiten Strichlein«, ermunterte er die Kellnerin, und als Letizia hörbar seufzte, sagte er, Mama werde schließlich nicht alle Tage 80.
Mama indessen saß erstaunlich frisch und heiter zuoberst am Tisch neben ihrem Mann, inmitten von Kirschstengeln, Pralinés und Rosensträußen, vor sich den halben Geburtstagskuchen mit den acht ausgeblasenen Kerzen (für zehn Jahre eine Kerze), ein farbiges Couvert mit einem Gutschein für eine Woche Ferien für zwei Personen in einem Hotel in Pontresina und eines Zopfs in Form einer Bettschere, welche ihr Mirjam und Thomas gebacken hatten.
»Auf unser Geburtstagskind!« rief Gino, hob sein Gläschen in die Richtung seiner Mutter, und alle taten es ihm gleich, nippten dann ein bißchen an ihren scharfen Getränken, während Gino für seine zwei Strichlein nur einen einzigen Schluck brauchte.
Julias Eltern bewohnten immer noch das Haus in Fällanden, obwohl dessen Unterhalt zunehmend mühsamer wurde. Der Altersunterschied zwischen Vater und Mutter betrug sieben Jahre, und der Hausarzt von Julias Vater hatte Manuel gegenüber schon das Wort »dement« benutzt. Er stand manchmal morgens um fünf auf und zog sich an, um seine Kanzlei in Zürich aufzusuchen, die schon seit zwölf Jahren einem andern Rechtsanwalt gehörte. Seine Frau musste den Autoschlüssel sorgfältig verwahren, um sicher zu sein, dass er nicht plötzlich losfuhr. Seinen Fahrausweis hatte er abgeben müssen, als er mit 80 Jahren vor einem Rotlicht auf einen stehenden Wagen aufgefahren war.
Das Geburtstagskind hatte also nicht nur für ein Einfamilienhaus zu sorgen, das für zwei Menschen zu groß war, sondern auch noch für einen Menschen, welchem die Kenntnisse des praktischen Lebens immer mehr abhanden kamen. Brachte aber Julia das Gespräch auf einen Umzug, taten das ihre Eltern mit dem Satz ab, das könne man dann immer noch machen, wenn es einmal Zeit dazu sei. Prospekte von Alterswohnungen und Seniorenresidenzen, welche sie ihnen mitbrachte, waren bei ihrem nächsten Besuch jeweils verschwunden, dafür wurde sie immer häufiger um Chauffeurdienste angegangen, für Zahnarzt- oder Physiotherapiebesuche. Wieso sie kein Taxi nähmen, fragte Julia jeweils am Telefon, und wenn Mutter das Wort wie eine Zumutung wiederholte, schrie ihr Vater aus dem Hintergrund ins Gespräch, das sei sauteuer. Da ihr Bruder Gino als Elektroingenieur bei den Engadiner Kraftwerken arbeitete und mit seiner Familie in Zernez wohnte, hatte sie die ganze Last der Elternpflege zu tragen.
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