Keine drei Meter trennten ihn von mir. Kopf, Brust, Pranken - wie entsetzlich groß! Seine Zähne - die Kraft einer ganzen Batallion zwischen zwei Kiefern. Er setzte zum Sprung auf die Plane an. Mein letzter Augenblick war gekommen.
Aber die nachgiebige Oberfläche irritierte ihn. Er drückte mit einer Pranke darauf. Er blickte sichernd auf - so offen an Licht und Luft war er ja nicht in seinem Metier. Er hatte Mühe, das Schlingern des Boots aufzufangen. Einen kurzen Augenblick lang zögerte Richard Parker.
Ich packte die Ratte und warf sie ihm zu. Ich sehe es noch vor mir, wie sie durch die Luft flog - die Krallen gespreizt, der Schwanz aufrecht, der längliche Hodensack, das Löchlein des Anus. Richard Parker sperrte den Rachen auf, und die quietschende Ratte verschwand darin wie ein Schlagball im Handschuh des Fängers. Den nackten Schwanz schlürfte er wie eine Nudel.
Er schien zufrieden mit seiner Ration. Er ließ sich wieder nach unten und kehrte unter die Plane zurück. Sofort erwachten meine Beine zum Leben. Ich sprang auf und klappte den Deckel vor, damit der Durchgang zwischen Bugbank und Plane blockiert war.
Ich hörte lautes Schnüffeln, dann das Geräusch von etwas Schwerem, das durchs Boot gezerrt wurde. Seine Bewegungen ließen das Boot ein wenig schaukeln. Dann hörte ich Reißen und Kauen. Vorsichtig lugte ich über die Plane. Er war in der Mitte des Bootes. Gierig verschlang er die Hyäne in großen Stücken. Eine solche Chance kam nicht noch einmal. Ich beugte mich vor und holte die übrigen Schwimmwesten - insgesamt sechs - und das letzte Ruder. Damit konnte ich das Floß noch sicherer machen. Im Vorbeigehen fiel mir ein Geruch auf. Nicht der scharfe Gestank von Katzenurin. Es roch nach Erbrochenem. Eine Pfütze davon stand am Boden des Boots. Sie konnte nur von Richard Parker kommen. Er war also tatsächlich seekrank.
Ich band das lange Seil am Floß an. Rettungsboot und Floß waren nun verbunden. Als Nächstes stattete ich die Unterseite des Floßes auf allen vier Seiten mit Schwimmwesten aus. Eine weitere schnallte ich über das Loch des Rettungsrings, wo sie als Sitz dienen sollte. Aus dem letzten Ruder machte ich eine Fußstütze, die ich auf einer der vier Seiten einen halben Meter vom Rettungsring festband; daran wiederum befestigte ich die letzte Schwimmweste. Ich arbeitete mit zitternden Fingern, mein Atem kam kurz und gepresst. Ich überprüfte sämtliche Knoten, dann überprüfte ich sie noch einmal.
Ich blickte hinaus auf die See. Nur lange, sanfte Wellen. Keine Schaumkronen. Der Wind war schwach und gleichmäßig. Ich blickte nach unten. Es waren Fische dort unten - große Fische mit dicken Schädeln und langen Schwanzflossen, Doraden oder Goldmakrelen nennt man sie, und kleinere von unbekannter Art, lang und schlank, und noch kleinere - und es gab Haie.
Vorsichtig ließ ich das Floß zu Wasser. Sollte es wider Erwarten nicht schwimmen, war ich so gut wie tot. Aber es schwamm. Die Schwimmwesten gaben ihm sogar so viel Auftrieb, dass die Ruder und der Rettungsring oben auf der Wasseroberfläche tanzten. Aber mein Mut sank. Kaum berührte das Floß das Wasser, machten die Fische sich davon - alle außer den Haien. Die Haifische blieben. Drei oder vier waren es. Einer schwamm direkt unter dem Floß hindurch. Richard Parker knurrte.
Ich kam mir vor wie ein Gefangener, den Piraten von einer Planke schubsten.
Ich navigierte das Floß so nahe an das Rettungsboot heran, wie die vorstehenden Ruder erlaubten. Ich lehnte mich hinunter und umfasste den Rettungsring. Im Floßboden gab es Ritzen - gähnende Abgründe wäre der passendere Ausdruck -, durch die ich direkt hinunter in die unendliche Tiefe der See blicken konnte. Wieder knurrte Richard Parker. Ich sprang hinunter zum Floß und landete auf dem Bauch. Ich lag dort, alle viere von mir gestreckt, und rührte mich nicht. Ich rechnete damit, dass das Floß jeden Moment kippen würde. Oder dass ein Hai auftauchte und mich mitsamt Schwimmwesten und Rudern verschlang. Keins von beiden geschah. Das Floß sank tiefer ein, es schlingerte und rollte, die Blätter der Ruder tauchten ein, aber es schwamm bestens. Die Haie kamen vorbei, aber sie rührten es nicht an.
Ein leichter Ruck. Das Floß drehte sich. Ich blickte auf. Rettungsboot und Floß hatten sich bereits so weit voneinander entfernt, wie das Seil erlaubte, etwa zwölf Meter. Das Seil spannte sich, hob sich aus dem Wasser und flatterte in der Luft. Der Anblick machte mir Angst. Ich war vom Boot geflohen, um mir das Leben zu retten. Jetzt wollte ich zurück. So ein Floß war doch entschieden zu gefährlich. Es musste nur ein Hai kommen und das Seil durchbeißen, oder ein Knoten musste sich lösen oder eine große Welle mich untertauchen, und es war um mich geschehen. Gemessen am Floß kam das Rettungsboot mir nun als der Gipfel von Komfort und Sicherheit vor.
Vorsichtig wandte ich mich um. Bis jetzt lag es gut im Wasser. Meine Fußstütze bewährte sich. Aber das Floß war zu klein. Der Platz reichte gerade, um darauf zu sitzen, mehr war es nicht. Ein solches Spielzeugfloß, Minifloß, Mikrofloß konnte man im Teich schwimmen lassen, aber nicht im Pazifischen Ozean. Ich fasste das Seil und zog. Je näher ich an das Rettungsboot kam, desto langsamer zog ich. Als ich längsseits war, hörte ich Richard Parker. Ich hörte ihn rupfen und kauen.
Minutenlang zögerte ich.
Dann blieb ich doch auf dem Floß. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich hatte nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatte ich einen Tiger oder ich hatte Haie unter mir. Ich wusste genau, wie gefährlich Richard Parker war. Haie hingegen waren mir den Beweis noch schuldig. Ich prüfte die Knoten des Seils, das Rettungsboot und Floß miteinander verband. Ich gab Leine, bis ich etwa neun Meter vom Rettungsboot entfernt war, der beste Ausgleich zwischen meinen zwei Ängsten: dass ich Richard Parker zu nahe oder dem Boot zu fern war. Die übrige Leine, etwa drei Meter, wickelte ich um die Fußstütze. Damit konnte ich den Abstand vergrößern, sobald es ratsam schien.
Der Tag ging zu Ende. Es begann zu regnen. Den ganzen Tag über war es warm und wolkig gewesen. Jetzt fiel die Temperatur, und der Regen kam kalt und gleichmäßig. Rund um mich platschten die Süßwassertropfen ins Meer, eine einzige große Verschwendung. Jeder Tropfen hinterließ ein Grübchen im Wasser. Ich holte wieder mehr Leine ein. Als ich am Bug angekommen war, setzte ich mich auf die Knie und hielt mich am Achtersteven fest. Ich zog mich hinauf und lugte vorsichtig über die Kante. Er war nicht zu sehen.
Hastig stieg ich in den Stauraum. Ich holte einen Regensammler, einen 50-Liter-Plastiksack, eine Decke und das Überlebenshandbuch heraus. Ich warf den Deckel zu. Das war keine Absicht - ich hatte nur meine wertvollen Güter vor dem Regen schützen wollen -, aber er rutschte mir aus der nassen Hand. Ein schwerer Fehler. Gerade in dem Augenblick, in dem ich die Sichtblende, die mich vor Richard Parker verborgen hatte, fortnahm, verursachte ich einen großen Knall, der ihn auf mich aufmerksam machte. Er stand über die Hyäne gebeugt. In derselben Sekunde hatte er schon den Kopf gewandt. Viele Tiere reagieren äußerst gereizt, wenn man sie beim Fressen stört. Richard Parker fauchte. Seine Pranken spannten sich. Die Schwanzspitze zuckte elektrisch. Ich ließ mich wieder aufs Floß fallen, und es muss wohl ebenso viel Furcht wie Wind und Strömung gewesen sein, was die Distanz zum Rettungsboot so schnell wachsen ließ. Ich spulte sämtliche Leine ab. Ich rechnete damit, dass Richard Parker jeden Moment über die Kante gesprungen und durch die Luft geflogen kam und sich mit Zähnen und Klauen auf mich stürzte. Mein Blick war auf das Boot geheftet. Je länger ich hinsah, desto unerträglicher war die Erwartung.
Aber er kam nicht.
Bis ich den Regensammler über mir aufgespannt und die Füße in den Plastiksack gesteckt hatte, war ich bereits nass bis auf die Haut. Auch die Wolldecke war feucht geworden, als ich mich aufs Floß zurückfallen ließ. Trotzdem wickelte ich mich hinein.
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