Was gab es sonst noch? Eifrig tauchte ich in den Stauraum ein und holte ein Wunderding nach dem anderen hervor. Jedes einzelne davon, ganz gleich was es war, war mir ein Trost. Mein Hunger nach menschlicher Gesellschaft war so groß, dass mir die Sorgfalt, mit der jedes dieser maschinengefertigten Güter produziert war, wie eine Wohltat vorkam, die jemand mir ganz persönlich tat. Immer wieder murmelte ich »Danke schön! Danke schön! Danke schön!«
Kapitel 52
Nach gründlicher Musterung stellte ich eine Inventarliste auf:
192 Tabletten gegen Seekrankheit
124 Blechdosen Trinkwasser, jeweils 500 Milliliter, insgesamt 62 Liter
32 Spucktüten, Kunststoff
31 Päckchen Notrationen, jeweils 500 Gramm, insgesamt 15,5 Kilogramm
16 Wolldecken
12 Solardestillen
ca. 10 orangefarbene Schwimmwesten, jede mit Trillerpfeife, ebenfalls orange, an einer Schnur
6 Morphiumampullen mit Spritzen
6 Signalfackeln
5 schwimmfähige Ruder
4 Signalraketen
3 kräftige transparente Kunststoffsäcke, Fassungsvermögen jeweils ca. 50 Liter
3 Dosenöffner
3 Trinkbecher, Glas, mit Maßeinteilung
2 Schachteln wasserfeste Streichhölzer
2 schwimmende orangefarbene Nebelkerzen
2 mittelgroße orangefarbene Kunststoffeimer
2 schwimmfähige orangefarbene Schöpfgefäße, Kunststoff
2 Universalgefäße, Kunststoff, mit luftdichtem Deckel
2 gelbe rechteckige Schwämme
2 schwimmfähige Kunststoffseile, jeweils 50 Meter lang
2 nicht schwimmfähige Kunststoffseile ohne Längenangabe, jedoch jeweils mindestens 30 Meter
2 Angelruten mit Haken, Schnur und Gewichten
2 Fischhaken mit äußerst scharfen gezahnten Widerhaken
2 Treibanker
2 Beile
2 Regensammler
2 Kugelschreiber, schwarz
1 Packnetz, Kunststoff
1 massiver Rettungsring, Innendurchmesser 40 Zentimeter, Außendurchmesser 80 Zentimeter, mit zugehörigem Seil
1 großes Jagdmesser mit massivem, spitz zulaufendem Griff, am einen Ende eine scharfe, am anderen eine gezahnte Klinge; mit einer langen Schnur an einem Ring im Stauraum befestigt
1 Nähzeugetui mit geraden und gebogenen Nadeln und kräftigem weißem Zwirn
1 Verbandskasten, wasserdicht, Kunststoff
1 Signalspiegel
1 Päckchen chinesische Filterzigaretten
1 große Tafel Bitterschokolade
1 Überlebenshandbuch
1 Kompass
1 Notizbuch mit 98 linierten Seiten
1 Junge mit einem kompletten Satz leichter Kleider bis auf einen verlorenen Schuh
1 Tüpfelhyäne
1 Bengalischer Tiger
1 Rettungsboot
1 Ozean
1 Gott
Ich aß ein Viertel der großen Schokoladentafel. Ich sah mir einen Regensammler genauer an. Es war eine Vorrichtung, die aussah wie ein umgedrehter Regenschirm, mit einem großen Beutel darunter, der das Wasser aufnahm, und einem Gummischlauch, der beides verband.
Ich kreuzte die Arme vor dem Rettungsring um meinen Bauch, ließ den Kopf auf die Brust sinken, und im nächsten Augenblick war ich fest eingeschlafen.
Kapitel 53
Ich schlief den ganzen Vormittag. Eine Beklommenheit weckte mich. Die Welle aus Nahrung, Wasser und Schlaf, die durch meinen geschwächten Körper lief und mir wieder die Kraft zum Leben gab, spülte zugleich auch die Erkenntnis herauf, wie aussichtslos meine Lage war. Ich wachte auf und wusste, dass Richard Parker da war. Dieses Rettungsboot hatte einen Tiger an Bord. Ich konnte es kaum glauben, aber ich wusste, dass es so war. Und ich musste mein Leben retten.
Ich überlegte, ob ich ins Wasser springen und einfach davonschwimmen konnte, aber mein Körper weigerte sich. Ich war Hunderte von Meilen vom nächsten Land entfernt, über tausend vielleicht. Eine solche Distanz konnte ich nicht schwimmen, auch nicht mit Rettungsring. Was sollte ich essen? Was sollte ich trinken? Wie sollte ich mich vor den Haien schützen? Vor der Auskühlung? Woher sollte ich wissen, in welche Richtung ich schwimmen musste? Wenn eines feststand, dann das: Das Boot zu verlassen bedeutete den sicheren Tod. Aber was gewann ich denn, wenn ich an Bord blieb? Nach Katzenart würde er sich anschleichen, lautlos. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hätte er mich schon am Hals oder im Nacken gepackt und mit seinen Reißzähnen durchlöchert. Ich würde nicht mehr sprechen können. Das Blut des Lebens würde aus mir herausströmen, ohne dass ich auch nur einen letzten Seufzer tun konnte. Oder er würde mich mit einem Schlag seiner gewaltigen Pranken töten, der mir das Genick brach.
»Ich muss sterben«, schluchzte ich mit bebenden Lippen.
Es ist schlimm genug, wenn man den Tod kommen sieht, doch noch schlimmer ist der Tod mit Wartezeit, in der man sich noch einmal vor Augen führt, wie glücklich man gewesen ist und wie glücklich man noch hätte sein können. Mit äußerster Klarheit sieht man alles, was man verliert. Eine so tiefe Traurigkeit stellt sich ein, dass kein Auto, das auf einen zurast, und kein Wasser, das sich über einem schließt, dagegen ankann. Nicht auszuhalten ist dieses Gefühl. Die Worte Vater, Mutter, Ravi, Indien, Winnipeg trafen mich mit all ihrer Macht.
Ich gab auf. Ich hätte aufgegeben - hätte sich in meinem Herzen nicht eine Stimme bemerkbar gemacht. Die Stimme sagte: »Ich sterbe nicht. Das lasse ich nicht zu. Ich werde diesen Alptraum überleben. So schlecht meine Karten auch sind, ich gewinne dieses Spiel. Bisher habe ich überlebt, das ist ein Wunder. Jetzt werde ich dafür sorgen, dass es bei dem Wunder auch bleibt. Von jetzt an wird jeder Tag ein unglaublicher Tag sein, dafür sorge ich, koste es, was es wolle. Jawohl, solange Gott bei mir ist, sterbe ich nicht. Amen.«
Mein Gesicht nahm einen grimmigen, zu allem entschlossenen Ausdruck an. Ich sage es in aller Bescheidenheit, aber dies war der Augenblick, in dem ich begriff, welch ungeheurer Lebenswille in mir steckt. Nach meiner Erfahrung ist das einem Menschen selten wirklich bewusst. Mancher von uns gibt mit einem einzigen resignierten Seufzer das Leben auf. Andere kämpfen ein wenig, dann verlieren sie den Mut. Wieder andere - und zu denen gehöre ichgeben niemals auf. Wir kämpfen und kämpfen und kämpfen, ganz gleich welche Opfer die Schlacht verlangt und wie gering die Aussicht auf Sieg sein mag. Wir kämpfen bis zum Letzten. Es ist keine Frage des Muts. Es ist etwas an unserem Charakter, das uns das Aufgeben einfach unmöglich macht. Vielleicht ist es nicht mehr als Lebenshunger mit einer großen Portion Dummheit.
In diesem Augenblick knurrte Richard Parker zum ersten Mal - als habe er gewartet, bis ich mich zum würdigen Gegner aufgeschwungen hatte. Es schnürte mir die Kehle zu.
»Jetzt aber los, Mann, schnell«, hauchte ich. Ich musste etwas für mein Überleben tun. Keine Sekunde war zu verlieren. Ich brauchte Deckung, und zwar sofort. Ich dachte an den Bugspriet, den ich mit einem Ruder gebastelt hatte. Aber jetzt war die Plane am Bug aufgerollt; der Rest hätte das Ruder nicht mehr gehalten. Und ich wusste auch nicht, ob es wirklich Sicherheit vor Richard Parker bedeutete, wenn ich am äußeren Ende eines Ruders hing. Wahrscheinlich musste er nur seine Pranke ausstrecken und mich mit der Kralle angeln. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen. Mein Verstand lief auf Hochtouren.
Ichbaute ein Floß. Die Ruderwaren, wie gesagt, aus schwimmfähigem Material. Und ich hatte Schwimmwesten und einen großen Rettungsring.
Mit angehaltenem Atem schloss ich den Deckel zum Stauraum und griff unter die Plane nach den Rudern auf den Seitenbänken. Richard Parker spürte es. Ich konnte ihn zwischen den Schwimmwesten sehen. Jedes Mal wenn ich ein Ruder herauszog - man kann sich vorstellen, wie vorsichtig -, wurde er ein wenig unruhig. Aber er drehte sich nicht um. Insgesamt zog ich drei Ruder heraus. Ein viertes lag ja schon oben auf der Plane. Ich klappte den Deckel wieder auf und blockierte damit die Öffnung zu Richard Parkers Höhle.
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