Noch einmal hörte ich Richard Parker prusten, und diesmal rollte er mit dem Kopf dazu. Es sah aus, als wolle er mich etwas fragen.
Ich sah ihn an, bestaunte ihn, so sehr er mich auch schreckte. Da keine unmittelbare Gefahr bestand, wurde mein Atem allmählich gleichmäßiger, mein Herz schlug mir nicht mehr ganz bis zum Halse, und mein Verstand kehrte nach und nach zurück.
Ich musste ihn zähmen. Das war der Augenblick, in dem ich begriff, dass es keine andere Möglichkeit gab. Es ging nicht darum, ob er oder ich durchkam, sondern wir mussten beide durchkommen. Wir saßen, und das nicht nur im übertragenen, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes, im selben Boot. Wir mussten miteinander leben - oder miteinander sterben. Es war denkbar, dass er durch einen Unfall umkam oder dass er an natürlichen Ursachen starb, aber es wäre abwegig gewesen, sich auf einen so unwahrscheinlichen Fall zu verlassen. Eher war das Schlimmste zu erwarten: dass einfach nur die Zeit verstrich und seine robuste Natur mein schwächliches Menschenleben mühelos überdauern würde. Nur wenn ich ihn zähmte, konnte ich ihn vielleicht überlisten und es so einrichten, dass er vor mir starb, wenn denn nun wirklich einer von uns sterben musste.
Aber das ist nicht alles. Ich will es nicht verschweigen. Ich will das Geheimnis verraten: Etwas in mir war froh, dass Richard Parker da war. Etwas in mir wollte nicht, dass Richard Parker starb, denn dann blieb ich allein zurück, allein mit meiner Verzweiflung, und das war ein Feind, der noch unbezwingbarer war als ein Tiger. Wenn ich überhaupt noch den Willen zum Leben hatte, dann verdankte ich ihn Richard Parker. Er sorgte dafür, dass ich nicht zu viel an meine Familie dachte, an das entsetzliche Unglück, das mir widerfahren war. Er drängte mich zum Leben. Ich hasste ihn dafür, aber zugleich war ich ihm auch dankbar. Ich bin ihm dankbar. Die simple Wahrheit ist: Ohne Richard Parker wäre ich heute nicht hier. Dass ich heute meine Geschichte erzählen kann, verdanke ich Richard Parker.
Ich blickte in die Runde, hinaus zum Horizont. War das denn nicht die perfekte Manege, kreisrund, nirgends eine Ecke, in die er sich drücken konnte? Ich blickte hinunter zum Meer. War das nicht ein unerschöpflicher Vorrat an Leckerbissen, mit denen ich ihn belohnen konnte, wenn er gehorchte? An einer der Schwimmwesten baumelte die Pfeife. War das nicht eine gute Peitsche, mit der ich ihn in Schach halten konnte? Was fehlte mir denn, um Richard Parker zu dressieren? Die Zeit? Es konnte Wochen dauern, bis ein Schiff vorbeikam. Ich hatte alle Zeit der Welt. Entschlossenheit? Die schiere Not würde für Entschlossenheit schon sorgen. Die Sachkenntnis? War ich denn nicht der Sohn eines Zoodirektors? Der Lohn? Gab es einen größeren Lohn als das Leben? Eine größere Strafe als den Tod? Ich blickte Richard Parker an. Meine Panik war verflogen, die Angst bezwungen. Wir würden es schaffen.
Tusch. Trommelwirbel. Die Vorstellung beginnt. Ich richtete mich auf. Richard Parker beobachtete mich. Nur mit Mühe hielt ich mein Gleichgewicht. »Hereinspaziert, meine Damen, meine Herren!«, brüllte ich, »Jungs und Mädels, sucht euch einen Platz, aber schnell! Herein mit euch! Ihr wollt doch nicht zu spät kommen! Nehmen Sie Platz, Damen und Herren, und seien Sie gespannt. Öffnen Sie die Augen, öffnen Sie die Herzen, warten Sie auf die Wunder, die wir Ihnen zeigen. Hier sind wir also, zu Ihrer Freude, zu Ihrer Erbauung, der Zirkus Ihres Lebens, DIE GRÖSSTE SCHAU AUF ERDEN. Kann die Vorstellung beginnen? Sind Sie bereit? Wir präsentieren Ihnen ein Tier, das in jeder Umgebung zu Hause ist. Sie haben sie in Schnee und Eiseskälte gesehen. Sie kennen sie aus dem undurchdringlichen tropischen Regenwald. Man begegnet ihnen in der weiten Halbwüste der Savannen. Sie hausen im Brackwasser der Mangrovensümpfe. Es ist ein Tier, das sich überall einfügen kann. Aber wir zeigen es Ihnen in einer Umgebung, in der Sie es noch nie gesehen haben! Damen und Herren, Mädchen und Jungen, seien Sie gespannt! Und nun ist es soweit, Applaus für PI PATELS INDO-KANADISCHEN TRANSPA-ZIFISCHEN SCHWIMMENDEN ZIRKUSSSSS!!!! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! «
Die Wirkung auf Richard Parker blieb nicht aus. Beim ersten Ton der Trillerpfeife fuhr er zusammen, dann fauchte er. Ha! Sollte er doch ins Wasser springen, wenn er wollte! Sollte er es doch nur versuchen!
»PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! «
Er brüllte und schlug mit den Pranken in die Luft. Aber ins Wasser sprang er nicht. Vielleicht verlor er seine Furcht vor der See, wenn Hunger und Durst ihn trieben, aber fürs Erste war es eine Furcht, auf die ich mich verlassen konnte.
»PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! «
Er trat einen Schritt zurück und ließ sich auf den Bootsboden fallen. Die erste Dressurstunde war vorüber. Sie war ein rauschender Erfolg. Ich nahm die Pfeife aus dem Mund und ließ mich auf das Floß plumpsen, erschöpft und außer Atem.
Und so kam es denn also:
Plan sieben: Ich sorge dafür, dass er am Leben bleibt.
Kapitel 58
Ich holte das Überlebenshandbuch hervor. Die Blätter waren noch feucht. Ich schlug sie vorsichtig um. Das Handbuch war von einem Korvettenkapitän der britischen Marine verfasst. Es enthielt eine Unmenge an praktischen Hinweisen, wie man als Schiffbrüchiger auf See sein Überleben sichern konnte. Es waren Ratschläge wie:
Lesen Sie Anweisungen stets sorgfältig.
Trinken Sie keinen Urin. Oder Meerwasser. Oder Vogelblut.
Essen Sie keine Quallen. Oder stachelbewehrte Fische. Oder Fische mit Mäulern wie Papageienschnäbeln. Oder solche, die sich aufblähen wie ein Ballon.
Ein fester Druck auf die Augen lähmt einen Fisch.
Unser Körper kann schwerste Belastungen überstehen. Ist ein Schiffbrüchiger verletzt, hüten Sie sich vor wohlmeinender, doch unwissender Behandlung. Unkenntnis ist der schlimmste Arzt, doch Schlaf und Ruhe sind die besten Pfleger.
Legen Sie mindestens fünf Minuten pro Stunde die Füße hoch.
Vermeiden Sie unnötige Kraftanstrengung. Hingegen sollte der Verstand beschäftigt bleiben, denn ein müßiger Verstand neigt zur Melancholie. Karten- oder Ratespiele sind ein gutes Mittel, den Geist in Bewegung zu halten. Gemeinsames Singen hebt die Moral der gesamten Belegschaft. Auch Geschichtenerzählen hat sich bewährt.
Grünes Wasser ist flacher als blaues.
Lassen Sie sich nicht von Wolken in der Ferne täuschen, die wie Gebirge aussehen. Halten Sie Ausschau nach allem, was grün ist. Letztlich kann nur der Fuß beurteilen, ob Sie auf festem Boden stehen.
Schwimmen Sie nicht im Meer. Das vergeudet Energie. Außerdem driftet ein Rettungsboot unter Umständen schneller als Sie schwimmen können. Von der Gefahr, die vom maritimen Leben ausgeht, ganz zu schweigen. Wenn Sie Abkühlung brauchen, feuchten Sie stattdessen Ihre Kleider an.
Urinieren Sie nicht in Ihre Kleider. Die kurzfristige Wärme ist die spätere Wundheit nicht wert.
Suchen Sie Deckung. Die Elemente können tödlicher sein als Durst und Hunger.
Solange keine größeren Mengen durch Schwitzen verloren werden, kann ein Körper bis zu vierzehn Tage ohne Wasser auskommen. Wenn Sie durstig sind, nehmen Sie einen Knopf in den Mund.
Schildkröten lassen sich leicht fangen und sind äu-ßerst nahrhaft. Ihr Blut ist ein guter, gesunder, salzfreier Trunk, ihr Fleisch ist wohlschmeckend und sättigend, ihr Fett lässt sich vielseitig verwenden, und der Schiffbrüchige wird feststellen, dass Schildkröteneier eine wahre Delikatesse sind. Nehmen Sie sich vor den Krallen und vor Bissen in Acht.
Lassen Sie sich nicht unterkriegen. Auch Rückschläge dürfen Sie nicht entmutigen. Vergessen Sie nie: Vor allem kommt es auf die Moral an. Wenn Sie den Willen zum Überleben haben, dann werden Sie überleben. Viel Glück!
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