Wir schwebten nicht in solchen luftigen Höhen, dass wir für einen Sonderling, einen schrägen Vogel, bedenkenlos die Brieftasche zücken und uns verausgaben konnten. Deswegen kam uns seine wilde Rede sehr gelegen. Er gab uns damit die Möglichkeit, den Esel vor der Anhöhe zum Halten zu bringen und abzusteigen.
Wir blickten alle zu Li Hand hinüber, der uns mitgenommen hatte.
Der schüttelte den Kopf: »Nase, jetzt lass dich erst einmal gesund pflegen. Wo dich doch die Polizei angefahren hat! Wir werden Verantwortung übernehmen, das ist doch selbstverständlich. Und wenn es Probleme gibt, dann finden wir einen Weg ...« »Jetzt aber raus!«, entgegnete Chen Nase. »Wenn meine Hand die Lanze halten könnte, würde ich euch eure strohdummen Schädel damit abklopfen!«
Ja, was hätten wir denn tun sollen? Wenn wir da nicht gegangen wären, wann dann?
Wir nahmen also unseren pestizidverseuchten, schlecht riechenden Blumenstrauß und wollten gerade zur Tür hinaus, als die dünne Schwester einen Mann im Arztkittel hereinführte. Sie stellte ihn uns als den stellvertretenden Krankenhausdirektor, Leiter der Abteilung Finanzen und Controlling vor. Dann stellte sie uns dem Arzt als Verwandtschaft der Nummer Neun vor. Der Vizeabteilungsleiter kam sofort zur Sache und zeigte uns die Abrechnung, erklärte, die lebensrettenden Maßnahmen und die Medikamente machten zusammen bereits einen Betrag von mehr als zwanzigtausend Yuan aus. Und er wolle nur darauf hinweisen, dass dieser Betrag lediglich den Selbstkosten entspreche. Würde nach den üblichen Sätzen der Klinik abgerechnet, fiele die Rechnung natürlich um ein Vielfaches höher aus.
Während er uns dies vortrug, pöbelte Chen Nase laut: »Verpisst euch, ihr Halsabschneider, Geschäftemacher, Beutelschneider! Ihr Leichen fleddernden Maden. Und ihr da, hey! Ich kenne euch nicht, verschwindet!« Sein linker, heil gebliebener Arm fuchtelte wild, trommelte gegen die Wand! Suchte und fand eine Glasflasche, die er ins gegenüberliegende Bett warf, und traf den am Tropf hängenden alterschwachen Patienten.
»Verpisst euch alle! Dieses Krankenhaus habt ihr meiner Tochter zu verdanken. Ihr seid alles von meiner Tochter eingestellte Hilfskräfte! Wenn ich will, fliegt ihr sowieso morgen raus, und dann ist es aus mit eurer eisernen Reisschüssel!«
Stellen Sie sich vor, Sugitani san, als Nases Geschrei und Toberei auf dem Höhepunkt waren, kam eine schwarz gekleidete und verschleierte Frau ins Krankenzimmer.
Ich brauche es nicht zu sagen, teurer Freund, Sie erraten, wer es war. Richtig! Es war Nases Tochter Augenbraue, die dem Feuer in der Plüschtierfabrik entkommene und durch die Feuersbrunst verunstaltete Kleine.
Geräuschlos wie ein Spukgespenst kam sie hereingeweht. Kleid und Schleier ließen sie geheimnisvoll aussehen, wie aus einer anderen Welt, unheimlich.
Der Lärm verstummte. Als hätte man den Stecker gezogen. Selbst die stickige, warme Luft war urplötzlich kühl geworden. Ein Vogel, der auf der vor dem Fenster blühenden Magnolie saß, stieß einen langgezogenen zärtlichen Ruf aus.
Von ihrem Gesicht war nichts zu sehen und auch sonst kein bisschen Haut. Nur dass sie hochgewachsen und schmal gebaut war, konnte man erkennen: die Figur eines Mannequins! Wir wussten natürlich, dass es Augenbraue war. Ich und Kleiner Löwe erinnerten uns sofort an das kleine Wickelbaby von vor mehr als zwanzig Jahren.
Sie nickte uns zu, dann dem Vizedirektor: »Ich bin die Tochter. Was wir schuldig sind, bezahle ich!«
Sugitani san, in Peking habe ich einen Freund, er ist ein Spezialist für Verbrennungskrankheit und in der Pekinger Klinik 304 im Forschungszentrum für Schwerbrandverletzte und Plastische Chirurgie beschäftigt, außerdem ist er Mitglied der Forschungsgesellschaft für Schwerbrandverletzte. Er hat mir einmal berichtet, dass Verbrennungskranke seelisch stark traumatisiert sind, dass sie das Psychotrauma vielleicht noch stärker belastet als die körperliche Verletzung. Wenn sie zum ersten Mal ihr entstelltes Gesicht im Spiegel sehen, ist der Schock kaum auszuhalten. Verbrennungskranke brauchen sehr viel Mut, um weiterzuleben.
Finden Sie nicht auch, lieber Freund, dass der Mensch mit der Umgebung steht und fällt, in der er sich befindet? Besondere Umstände mögen dazu führen, dass Feiglinge plötzlich zu Helden werden, dass Verbrecher plötzlich gute Werke tun, dass Geizkragen mit zugeknöpften Taschen auf einen Schlag ihr gesamtes Geld verwetten. Augenbraues mutiges Auftreten und ihr Einstehen für ihren Vater sorgte bei uns für peinliche Betretenheit, und diese Peinlichkeit ließ unseren Sinn für Gerechtigkeit erwachen. Wahrer Gerechtigkeitssinn führt dazu, dass man anderen mit dem eigenen Geld hilft.
Zuerst war es Hand, dann auch wir anderen, die sprachen: »Augenbraue, du braves Mädchen, wir helfen dir bei der Rechnung für deinen Vater.«
Augenbraue entgegnete kühl: »Danke für eure Hilfsbereitschaft, aber unsere Schulden sind so hoch, die kann man niemandem zumuten.«
Nase schrie aus Leibeskräften: »Verschwinde! Du schwarz verhüllter Dämon, der sich erdreistet, sich als meine Tochter auszugeben. Meine eine Tochter macht ein Auslandsstudium in Spanien, ist dort in einen spanischen Prinzen verliebt, und beide planen ihre Hochzeit, meine andere Tochter ist in Italien und hat dort eine der ältesten Kellereien Europas gekauft, die einen köstlichen Wein herstellt, von dem sie ein ganzes Containerschiff voll auf den Weg nach China geschickt hat.«
9
Sugitani san! Wie peinlich ist es mir, dass ich noch keine Zeile von meinem Theaterstück geschrieben habe, auf das Sie schon so lange warten.
Es ist zu viel Material. Mir ist zumute wie einem Hund vor dem Berg Taishan, in den er hineinbeißen soll, aber er findet keine Stelle, an der er seine Zähne ansetzen kann.
Während ich mir darüber Gedanken mache, geschehen in meinem realen Leben immer wieder Dinge, die mit der Handlung des Theaterstücks verknüpft sind, die übersteigerte Theatralik macht meine Gedankengänge immer wieder zunichte. Warum ich mich nun ganz und gar geniere, ist, dass ich in eine Falle getappt bin und mich aus der vertrackten Lage, in die ich mich gebracht habe, nicht mehr zu befreien weiß. Oder wie soll ich sagen: Ich weiß nicht, wie ich mit meiner neuen Rolle umgehen soll, wie ich das schultern soll.
Treuer Freund! Sie wissen, was mir das Herz schwer macht. Meine Befürchtungen, von denen ich Ihnen bereits schrieb, waren nicht unbegründet. Es ist wahr, unverrückbare Realität.
Kleiner Löwe hat es zuletzt doch zugegeben. Sie hat mir tatsächlich meine kleinen Kaulquappen gestohlen! Und Augenbraue damit künstlich befruchten lassen. Das Blut schoss mir bis in die Haarwurzeln, als ich es hörte. Ich rastete aus vor Wut. Wie von Sinnen schlug ich ihr mit aller Gewalt ins Gesicht.
Ich weiß, dass man nicht handgreiflich werden darf. Besonders jemandem wie mir, einem den Lorbeerkranz tragenden Dichter von Tragödien, von Dramen, steht eine solche Barbarei nicht an. Liebster Freund, ich war aber wirklich völlig außer mir vor Wut.
Als ich von der Floßfahrt mit dem kleinen Plattschädel zurückgekommen war, hatte ich begonnen, Nachforschungen anzustellen. Doch jedes Mal, wenn ich die Froschzuchtfarm betreten wollte, war ich von den Wachposten abgefangen worden. Ich versuchte, Yuan Backe und meinen kleinen Cousin per Telefon zu erreichen, doch sie hatten längst neue Handynummern. Ich versuchte, aus meiner Frau etwas herauszubekommen. Sie verhöhnte mich, ich wäre geisteskrank. Ich druckte mir alle Informationen aus, die die Froschzuchtfirma über ihr Leihmütterangebot und die Abwicklung der Schwangerschaft bei Bestellung eines Kindes auf ihrer Internetseite gab, ging damit zur Stadtverwaltung und erstattete gegen die Firma Anzeige beim Komitee zur Geburtenplanung. Das Komitee behielt zwar das von mir mitgebrachte Material, unternahm aber nichts. Ich ging daraufhin zur Polizei, um dort Anzeige zu erstatten. Aber die Sachbearbeiter am Tresen erklärten mir, dass diese Art von Anzeigen nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fielen. Ich rief bei der Hotline des Bürgermeisters an. Der Telefondienst versprach, alle Informationen an den Bürgermeister weiterzugeben ...
Читать дальше