Ich erkannte ihn an dem fehlenden Ringfinger seiner rechten Hand und an seiner großen Nase. Chen Nase, der immer so gutaussehend gewesen war, hatte nun eine Glatze. Das Haar am Hinterkopf fiel glatt herab, eine Frisur, wie sie Cervantes getragen haben mochte. Seine Haut war trocken, die Wangen eingefallen. Wahrscheinlich hatte er keine Backenzähne mehr. Mit drei Fingern seiner Rechten drückte er einen Zigarettenstummel an seinen Mund und versuchte, noch einmal daran zu ziehen. In der Luft hing der unangenehme Geruch des angebrannten Filters. Der Qualm kam in weißen Schwaden aus beiden Nasenlöchern und vernebelte seinen Blick. Er hatte den typischen Blick eines Penners. Ich traute mich nicht recht, ihn anzuschauen, konnte den Blick aber auch nicht abwenden.
Ich erinnerte mich an die Bronzestatue von Cervantes auf dem Campus der Pekinger Universität und verstand, warum sich Nase in diesem Restaurant aufhielt. Er war seltsam angezogen, weder Joppe noch Weste, um den Hals hatte er etwas Weißes gebunden, wohl ein Baumwolltuch. Ich sah, so meine ich, dass Nase einen Säbel am Körper trug. Tatsächlich, die Waffe lehnte an der Wand. Und ich entdeckte einen Eisenhandschuh, einen jämmerlichen Faustschild und eine in der Ecke aufgestellte Lanze. Ich meinte, zu seinen Füßen auch einen dreckigen, mageren Hund gesehen zu haben. Es stimmte, da war ein Hund, er war zwar dreckig, aber dünn war er nicht. Cervantes, so sagt man, fehlte an seiner Rechten auch ein Finger. Doch Tartsche und Lanze trug er nicht bei sich. Das tat Don Quijote. Nase sah aus wie Cervantes. Dabei wussten wir nicht, wie Cervantes ausgesehen hat, noch weniger konnten wir Don Quijote, der nie existiert hat, gesehen haben.
Sugitani san, halten Sie es damit, wie Sie wollen: Cervantes oder Don Quijote.
Ich war darüber tief bekümmert, dass mein alter Freund in eine so furchtbare Lage geraten war. Ich erzählte bereits, welch furchtbares Schicksal seine Töchter ereilt hatte. Ohr und Augenbraue waren bei uns in Gaomi immer die hübschesten Schwestern weit und breit gewesen. Nase war nicht rein chinesisch. Er hatte fremdländische Vorfahren, woher genau, wussten wir nicht. Deshalb waren die Gesichter seiner Töchter nicht flach, sondern hatten ausdrucksstarke Züge. Worte, mit denen in klassischen chinesischen Gedichten und Romanen Frauenschönheit beschrieben wird, greifen bei den beiden hübschen Schwestern nicht.
Sie waren wie Kamele in einer Herde Schafe, wie mandschurische Kraniche in einer Schar Hühner. Wären sie in wohlhabende Familien oder in einem reichen Land geboren worden, hätten sie alle Chancen gehabt. Selbst wenn sie weit weg in einer ärmlichen Familie zur Welt gekommen wären, hätten sie vielleicht, vom Schicksal plötzlich begünstigt, einen Edlen getroffen; und hätten sie dann nur einen einzigen Ton gesagt, hätte sich ihr Schicksal zum Guten gewendet, und sie hätten einem leuchtenden Stern am Himmel geglichen.
Die beiden waren zusammen fortgegangen, Richtung Süden, hatten sich alleine durchgeschlagen. Wahrscheinlich in der Hoffnung, doch noch eine Chance zu bekommen.
Ich hatte gehört, dass sie nach Dongli in der Provinz Kanton gegangen seien und dort in einer Plüschtierfabrik gearbeitet hätten. Dass der Fabrikbesitzer ein Ausländer gewesen sei. Ob ein echter Ausländer, kann man nicht mit Sicherheit sagen.
Was waren die zwei Schwestern hübsch und klug gewesen! In einer Umgebung, in der man dem Geld und dem Luxus frönt, hätte ihnen ihre Unberührtheit nichts bedeuten dürfen, dann wäre für sie alles einfach gewesen. Aber sie hatten ihre Arbeitskraft verkauft und waren in der Fertigung geblieben. Hatten im Schweiße ihres Angesichts brutale Ausbeutung ertragen. Zuletzt war in der Fabrik ein Feuer ausgebrochen, ganz China war über dieses Unglück schockiert. Die Ältere der beiden war verbrannt. Die Jüngere hatte schwere Brandverletzungen erlitten, die sie verunstalteten. Die große Schwester hatte die kleine mit ihrem Körper zu schützen versucht, als beide um ihr Leben gerannt waren. Wie schmerzlich! Wie traurig! Wie mitleiderregend! Es war der Beweis dafür, dass die beiden ihre Tugend nie verloren hatten! Dass sie brave Kinder geblieben waren! Kristallrein, wie geschliffene Jade ...
Verzeihung Sugitani san. Ich bin furchtbar ergriffen.
Nases Leben ist so voller Leid!
Ich finde, wenn er in diesem Lokal namens »Don Quijote de la Mancha« den schon lange verstorbenen Cervantes oder die frei erfundene Figur des Don Quijote spielt, ist er nicht besser als der zwergenwüchsige Türsteher im Pekinger »Paradise Bird Dance Club« oder der riesenwüchsige Türsteher in der »Wasserfallgrotte« Spa von Taizhou in Jiangsu. Da gibt es keinen Unterschied. Jedes Mal wird der eigene Körper vermarktet. Beim Zwerg ist es der Zwergenwuchs, beim Riesen der Riesenwuchs und bei Nase die überdimensionale Nase. Sie befinden sich alle in derselben tragischen Situation.
Sugitani san, ich erkannte Nase an jenem Abend sofort, obwohl ich ihn fast zwanzig Jahre nicht gesehen hatte! Ich gebe zu, ich könnte ihn hundert Jahre nicht gesehen haben, auch im Ausland würde ich ihn erkennen.
Natürlich hatte er uns ebenfalls erkannt, nicht nur wir ihn. Alte Freunde aus Kinderzeiten! Da braucht man nicht einmal Augen, man verlässt sich auf seine Ohren und erkennt sich am Seufzer und am Nieser, alles sichere Erkennungszeichen.
Sollten wir nicht gleich auf ihn zugehen? Ihn ganz unkompliziert zu uns an den Tisch bitten und mit ihm zusammen essen ...
Kleiner Löwe und ich zögerten. Ich schaute absichtlich nicht direkt zu ihm hin. Ich war mir sicher, dass er, wie er jetzt den ausgestopften Hirsch an der Wand betrachtete, darüber nachdachte, nach vorn zu kommen und uns zu begrüßen.
Damals beim Fest des Herdgotts, als er zusammen mit seiner Tochter Ohr zu uns nach Hause gekommen war ... O, wie genau ich mich jetzt wieder daran erinnerte! Er, groß wie ein Baum, mit seiner robusten Schweinslederjacke, den großen Stößel in der erhobenen Hand, den er in unseren Wok mit den Neujahrsmaultaschen werfen wollte. Wüst, aufbrausend, gewalttätig, wie ein in Zorn geratener Bär.
Danach hatte ich ihn nie wieder gesehen. Ich war mir jetzt sicher, dass nicht nur ich mich an das Vorgefallene erinnerte, sondern auch er, und dass nicht nur wir von der überraschenden Begegnung so betroffen waren, sondern auch er. Wir haben ihn niemals gehasst. Wir bemitleideten ihn wegen seines Pechs, der laufenden Heimsuchungen.
Warum wir nicht sofort aufstanden, zu ihm gingen und ihn begrüßten? Nur weil wir nicht wussten, wie wir uns verhalten sollten, denn zweifellos standen wir uns wesentlich besser als er; wir sagen hier in Gaomi: Bei uns flutschte es besser. Wie verhalten sich Leute, denen es gut geht und die Geld haben, gegenüber ihren Freunden, denen es schlecht geht und die in Schwierigkeiten sind? Dafür braucht man Gespür und Takt!
Sugitani san, meiner schlechten Angewohnheit – dem Rauchen – fröne ich unverändert. In Amerika, in Europa und auch in Eurem Japan gibt es für Raucher inzwischen viele Einschränkungen. Man fühlt sich als Raucher ungehobelt, als hätte man schlechte Umgangsformen. Bei uns in Gaomi hat sich in Bezug auf das Rauchen noch nichts geändert.
Ich holte meine Zigaretten raus, nahm eine aus der Packung und zündete sie mir mit einem Streichholz an.
Ich liebe diesen schwachen Schwefelgeruch, der beim Entzünden der Streichhölzer entsteht.
Sugitani san, ich rauchte an jenem Tag Zigaretten Marke Gelbe Kranichpagode 1916, eine der teuersten Marken Chinas, angeblich kostete ein Päckchen sechshundert Yuan, das sind dreißig Yuan pro Zigarette. Weizen kostet bei uns 8 Groschen das Pfund. Also müsste man siebenunddreißigeinhalb Pfund Weizen verkaufen und bekäme dafür nur eine einzige Zigarette der Marke Gelbe Kranichpagode. Von so viel Mehl kann man fünfzehn große Brote backen und sich einen ganzen Monat lang damit ernähren. An einer Zigarette Marke Gelbe Kranichpagode zieht man ein paar Mal, und schon ist sie verglüht. Diese Zigaretten waren prachtvoll und teuer verpackt, jede einzelne am Filter vergoldet, dass ich an Euren Goldenen Pavillon-Tempel, den Kinkaku-ji, denken muss. Ob sich der Zigarettendesigner dort inspirieren ließ?
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