Montaigne feierte die Schönheit des Dahingleitens über die Oberfläche des Lebens: eine Kunst, die er mit zunehmendem Alter immer mehr vervollkommnete. Gleichzeitig jedoch bemühte er sich als Schriftsteller darum, die Tiefen zu ergründen: «Wann immer ich mich glücklich fühle, sinne ich hierüber nach; ich schöpfe nicht nur den Schaum dieser Empfindung ab, sondern lote sie aus.» Er war so fest entschlossen, einem Phänomen auf den Grund zu gehen, das per definitionem als unauslotbar galt — dem Schlaf —, dass er sich von einem leidgeprüften Diener mitten in der Nacht wecken ließ in der Hoffnung, einen Blick in sein zurückweichendes Unbewusstes werfen zu können.
Montaigne wollte wegdämmern, gleichzeitig aber die Wirklichkeit festhalten und beobachten. Beim Schreiben war beides zugleich möglich. Selbst wenn er sich in seinen rêveries verlor, traf er insgeheim Vorkehrungen, um sie jederzeit zurückrufen zu können. Sterben lernen hieß loslassen, leben lernen hieß festhalten.
Bewusstseinsstrom
Tatsächlich lässt sich keine Erfahrung vollständig wiederholen, sosehr man sich auch bemüht. Um es mit einem berühmten Diktum des griechischen Philosophen Heraklit zu sagen: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Selbst wenn man an dieselbe Stelle des Ufers zurückkehrt, fließt anderes Wasser vorbei. Gleichermaßen unmöglich ist es, die Welt genauso wiederzuerleben, wie man sie eine halbe Stunde zuvor erlebt hat, oder sie aus der Perspektive des Menschen zu sehen, der neben einem steht. Der Geist fließt immer weiter, in einem unaufhörlichen «Bewusstseinsstrom». Der Begriff wurde von dem Psychologen William James im Jahr 1890 geprägt, auch wenn er erst später durch Romanautoren geläufig wurde.
Auch Montaigne zitiert Heraklit, wenn er beschreibt, wie wir von unseren Gedanken vorwärtsgetragen werden, «bald sanft, bald heftig, je nachdem, ob das Wasser aufgewühlt oder ruhig dahinfließt […]. Jeden Tag eine neue Grille, derart wetterwendisch sind unsre Anwandlungen!» Kein Wunder, dass der Geist sich so verhält, da sich ja selbst die offenkundig feste, materielle Welt in unaufhörlicher Bewegung und Veränderung befindet. Wenn Montaigne die Landschaft ringsherum betrachtete, stellte er sich vor, wie sie auf und ab wogte wie blubbernder Haferbrei. Der Fluss Dordogne vor seiner Haustür grub sich sein Bett, wie ein Tischler Vertiefungen ins Holz schnitzte. Ihn erstaunten die mächtigen Wanderdünen des Médoc, wo einer seiner Brüder lebte: Sie nahmen das Land in Besitz und verschlangen es wie Tiere. Wenn wir die Welt im Zeitraffer beobachten könnten, sinnierte er, würden wir «ein unaufhörliches Wechselspiel sich endlos vervielfachender Formen» sehen. Die Materie existierte in einem endlosen branloire: ein aus dem Bauerntanz (branle) des 16. Jahrhunderts abgeleiteter Begriff. Die Welt war «ein ewiges Auf und Ab», ein wogender Tanz.
Auch andere Autoren des 16. Jahrhunderts waren wie Montaigne von der Instabilität fasziniert. Ungewöhnlich war jedoch seine Überzeugung, dass der Betrachter genauso unzuverlässig ist wie das Betrachtete. Beide Bewegungen verhalten sich zueinander wie Variablen einer komplexen mathematischen Gleichung — mit der Folge, dass man keinen festen Punkt findet, von dem aus man messen und beurteilen kann. Der Versuch, die Welt zu verstehen, gleicht dem Greifen nach einer Gaswolke oder einer Flüssigkeit mit Händen, die selbst aus Gas oder Wasser sind und sich auflösen, sobald man die Finger schließt.
Und deshalb fließt auch Montaignes Buch auf seine ganz eigene Art dahin: Es folgt dem Bewusstseinsstrom des Autors, ohne zu versuchen, ihn aufzuhalten oder einzudämmen. Die Essais sind eine Abfolge von Mäandern, Windungen und Abschweifungen. Man muss sich diesem Strom anvertrauen und hoffen, nicht zu kentern, wenn einen ein erneuter Richtungswechsel aus dem Gleichgewicht wirft. Das Kapitel «Über die Hinkenden» zum Beispiel beginnt ganz konventionell mit einem Gerücht über hinkende Frauen. Es hieß, der Sex mit ihnen sei vergnüglicher. Warum sollte das der Fall sein? fragt Montaigne. Vielleicht weil ihre Bewegungen ungleichmäßig sind? Mag sein, doch er fügt hinzu: «Kürzlich erfuhr ich jedoch, dass die antike Philosophie die Frage bereits entschieden hat.» Aristoteles sagt, die Vagina einer Hinkenden sei muskulöser, weil sie besser durchblutet sei als die Beine, deren Nährstoffe ihr zugute kommen. Montaigne referiert diesen Gedanken, äußert aber Zweifel: «Doch was vermöchten wir auf dieser Ebene nicht alles ins Feld zu führen!» Solche Spekulationen seien unzuverlässig. Schließlich verrät er, er habe es selbst ausprobiert und dabei etwas ganz anderes gelernt: dass nämlich die Frage irrelevant ist, da die Phantasie einen glauben macht, man erlebe eine gesteigerte Lust, egal, ob sie «real» ist oder nicht. Letztlich ist nur eines sicher: die Absonderlichkeit des menschlichen Geistes. Eine ungewöhnliche Schlussfolgerung, die keinen Bezug zu dem Thema zu haben scheint, von dem der Essai ursprünglich ausging.
Ein anderer Essai , «Über unser Glück sollte man erst nach dem Tode urteilen», beginnt mit der nach Solon zitierten Plattitüde, dass kein Mensch glücklich genannt werden könne, solange er noch den Gefahren des Lebens ausgesetzt sei. Dann wechselt Montaigne zu einem interessanteren Gedanken: dass unser Urteil über das Leben eines Menschen womöglich davon abhängt, wie er gestorben ist. Ein Mensch, der einen schönen und glückhaften Tod hat, bleibt als jemand in Erinnerung, der gut gelebt hat. Dafür gibt Montaigne Beispiele, und dann wechselt er erneut den Kurs. Tatsächlich, fährt er jetzt fort, könne jemand, der gut gelebt hat, qualvoll sterben, und umgekehrt. Zu Montaignes Lebzeiten starben drei der verruchtesten Menschen, die er kannte, einen «bis zur Vollkommenheit friedlichen Tod». Das Kapitel ist also eine lange, dreifach gewundene Einleitung, um lediglich Montaignes Hoffnung auf ein gutes Ende seines eigenen Lebens zu bekunden — wobei er hinzufügt, dass ein gutes Ende bedeutet: «ruhig und in aller Stille» zu sterben, also alles andere als bewundernswürdig. Das Kapitel endet unvermittelt in dem Augenblick, da der Leser sich fragt, ob das nun bedeutet, dass Montaigne gut gelebt hat oder nicht.
Die meisten Überlegungen Montaignes laufen auf die Schlussfolgerung hinaus, dass das Leben nicht so einfach ist, wie er es soeben beschrieben hat.
Könnte meine Seele jemals Fuß fassen, würde ich nicht Versuche mit mir machen, sondern mich entscheiden. Doch sie ist ständig in der Lehre und Erprobung.
Der ständige Richtungswechsel erklärt sich teils aus dieser Grundhaltung des Fragens, teils aber auch daraus, dass er mehr als zwanzig Jahre lang an den Essais schrieb — ein langer Zeitraum, in dem sich die Ansichten eines Menschen verändern, vor allem wenn er viel reist, liest, mit interessanten Leuten spricht und politische und diplomatische Ämter bekleidet. Bei der Durchsicht früherer Entwürfe der Essais fügte er weiteren Stoff hinzu und bemühte sich erst gar nicht, eine künstliche Einheit zu schaffen. Im Verlauf weniger Zeilen begegnen wir Montaigne deshalb als jungem Mann, als altem Mann, der mit einem Fuß schon im Grab steht, und dann wieder als Bürgermeister in seinen besten Jahren, der eine schwere politische Verantwortung zu tragen hat. Er klagt über Impotenz, und im nächsten Augenblick erleben wir ihn jung und sinnenfroh, «bis zur Unverschämtheit genital». Er ist hitzköpfig, freimütig und verschwiegen; von anderen Menschen begeistert und dann wieder ihrer überdrüssig. Seine Gedanken hören wir, wie sie ihm in den Sinn kommen. Er lässt uns das Vergehen der Zeit in seiner inneren Welt erleben: «Ich schildere nicht das Sein, ich schildre das Unterwegssein: weniger von einem Lebensalter zum andern […] als von Tag zu Tag, von Minute zu Minute.»
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