Trotz seiner Bereitschaft, in den Tod hinüberzugleiten, starb Montaigne nach diesem Unfall nicht. Er erholte sich — und führte von da an ein etwas anderes Leben. Aus seinem «Versuch» über den Tod bezog er eine entschieden unphilosophische philosophische Lektion, die er folgendermaßen beschrieb:
Falls ihr nicht zu sterben versteht — keine Angst! Die Natur wird euch, wenn es so weit ist, schon genau sagen, was ihr zu tun habt, und die Führung der Sache voll und ganz für euch übernehmen; grübelt also nicht darüber nach.
«Habe keine Angst vor dem Tod» wurde zu seiner fundamentalen, befreienden Antwort auf die Frage, wie man leben soll. Sie befreite ihn — zum Leben.
Aber das Leben ist schwieriger als der Tod. Statt passivem Sichergeben bedarf es der Aufmerksamkeit und des aktiven Engagements. Und das Leben kann auch schmerzlicher sein. Montaignes wohliges Sich-treiben-Lassen auf der Woge des Vergessens blieb kein Dauerzustand. Als er zwei, drei Stunden später wieder das volle Bewusstsein erlangt hatte, befielen ihn körperliche Schmerzen, seine Gliedmaßen waren «ganz zerquetscht und zerschlagen», tagelang. Und mehr als drei Jahre später schrieb er: «Noch heute spüre ich die Wucht jenes Zusammenpralls.»
Bis die Erinnerung zurückkehrte, dauerte es länger, obwohl er tagelang versuchte, durch die Befragung von Augenzeugen über das Geschehene Klarheit zu gewinnen. Und dann stand ihm urplötzlich alles wieder vor Augen, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Seine Rückkehr ins Leben vollzog sich so schlagartig wie sein Unfall: massiv, voller Wucht. Das Leben fuhr mit aller Macht in ihn, während der Tod etwas Sanftes und Oberflächliches gewesen war.
Von nun an versuchte er, diese Sanftheit und Leichtigkeit des Todes ins Leben hinüberzuretten. Es gab «so viele Löcher in unsrem Weg über die Erde», heißt es in einem späten Essai , «dass wir, um sicherzugehen, möglichst leicht und oberflächlich auftreten sollten». Diese Entdeckung nahm ihm weitgehend seine Angst vor dem Tod und gab ihm gleichzeitig ein neues Gefühl dafür, dass das Leben, wie es durch seinen Körper strömte, sein eigenes Leben, das Leben Michel de Montaignes, ein hochinteressantes Untersuchungsobjekt war. Er achtete jetzt auf Empfindungen und Erfahrungen nicht im Hinblick darauf, wie sie sein sollten oder welche philosophischen Lehren man aus ihnen ziehen konnte, sondern wie sie tatsächlich waren. Von nun an würde er sich dem Strom des Lebens überlassen.
Das war für ihn eine neue Disziplin, die nun sein Alltagsleben bestimmte und ihm — durch sein Schreiben — eine Form der Unsterblichkeit verschaffte. In der Mitte seines Lebens also gab Montaigne seinen bisherigen Kurs auf und wurde neu geboren.
2
Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Lebe den Augenblick!
Anfangen zu schreiben
Der Reitunfall selbst, der Montaignes Sichtweise so grundlegend veränderte, dauerte nur wenige Augenblicke, seine Wirkung dagegen entfaltete sich in drei Phasen, die sich insgesamt über mehrere Jahre hinzogen. Da ist zunächst der am Boden liegende, zerschundene Montaigne, den ein Gefühl der Euphorie durchströmt. Dann, in den Wochen und Monaten danach, begegnen wir einem Montaigne, der über dieses Erlebnis nachdenkt und es mit seiner philosophischen Lektüre in Einklang zu bringen sucht. Und schließlich tritt uns jener Montaigne entgegen, der ein paar Jahre später anfängt, darüber — und über zahllose andere Dinge — zu schreiben. Der Unfall selbst konnte jedem passieren. Das Nachdenken darüber war typisch für einen empfindsamen und gebildeten jungen Mann zur Zeit der Renaissance. Doch dass Montaigne darüber zu schreiben begann, macht ihn zu etwas Besonderem.
Wie der Unfall mit dem Entschluss, darüber zu schreiben, zusammenhängt, ist nicht leicht zu erklären. Jedenfalls richtete sich Montaigne nicht im Bett auf und griff zur Feder. Mit den Essais begann er erst ein paar Jahre später, um 1572, und auch dann schrieb er zuerst andere Kapitel, bevor er über jene Erfahrung des Todes Rechenschaft ablegte. Doch der Entschluss, auf diese Art zu schreiben, führte zu etwas ganz Neuem, das kein anderer Autor vor ihm versucht hatte: Montaigne analysierte seine innersten Empfindungen und folgte ihnen schreibend von einem Augenblick zum nächsten. Und es scheint tatsächlich einen chronologischen Zusammenhang zwischen dem Reitunfall und einem anderen Wendepunkt in seinem Leben gegeben zu haben, der ihn den Weg zum Schreiben einschlagen ließ: dem Entschluss, sein Amt als Parlamentsrat von Bordeaux aufzugeben.
Montaigne hatte bis dahin zwei Leben geführt: ein Leben in der Stadt als Inhaber politischer Ämter und eines auf dem Land als Verwalter seiner Güter. Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1568 hatte er das Familienanwesen übernommen, seinen Posten in Bordeaux jedoch behalten. Anfang 1570 verkaufte er dieses Amt. Neben dem Unfall gab es dafür noch andere Gründe. Er hatte sich vergeblich um eine Stelle an einer höheren Kammer des Parlaments beworben: eine Beförderung, die wahrscheinlich von politischen Gegnern hintertrieben wurde. Es wäre normal gewesen, Widerspruch einzulegen und um die Beförderung zu kämpfen, aber Montaigne zog sich zurück, sei es aus Verärgerung, sei es aus Enttäuschung. Vielleicht aber auch, weil sich durch die Begegnung mit dem eigenen Tod und nach dem Tod seines Bruders seine Einstellung zum Leben grundsätzlich verändert hatte.
Montaigne hatte dreizehn Jahre lang im Parlament von Bordeaux gearbeitet, jetzt war er siebenunddreißig — nach den Maßstäben seiner Zeit in mittleren Jahren, aber keineswegs alt. Trotzdem entschloss er sich zum Rückzug aus dem Trubel des öffentlichen Lebens, um eine neue, kontemplative Existenz zu beginnen. An seinem achtunddreißigsten Geburtstag, fast ein Jahr nach seinem Rückzug aus allen politischen Ämtern, dokumentierte er diesen Schritt durch eine lateinische Inschrift, die er an der Wand seiner Bibliothek anbringen ließ:
Im Jahr des Herrn 1571, im achtunddreißigsten Lebensjahr, am letzten Tag des Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michel de Montaigne, seit langem der Bürden des Gerichts und der öffentlichen Ämter müde, in voller Schaffenskraft in den Schoß der gelehrten Jungfrauen [der Musen] zurückgezogen, wo er in Ruhe und aller Sorgen ledig die Tage verbringen wird, die ihm noch zu leben bleiben. Möge das Schicksal es ihm vergönnen, diese Wohnung der süßen Weltflucht seiner Ahnen zu vollenden, die er seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße geweiht hat.
Von nun an lebte Montaigne ganz für sich und nicht mehr für die Pflicht. Vielleicht unterschätzte er, wie viel Mühe ihn die Bewirtschaftung des Landguts kosten würde, und noch lässt nichts darauf schließen, dass er vorhatte, Essais zu schreiben. Er spricht lediglich von «Ruhe» und «Freiheit». Und doch hatte er zu diesem Zeitpunkt schon mehrere kleinere literarische Projekte abgeschlossen. Eher widerwillig hatte er auf Drängen seines Vaters ein theologisches Werk übersetzt, hatte die nachgelassenen Schriften seines Freundes Étienne de La Boétie herausgegeben, Widmungen dazu verfasst und einen Brief, in dem er La Boéties letzte Lebenstage beschrieb. Während dieser Jahre um 1570, in denen er erste literarische Versuche unternahm, musste er den Tod mehrerer ihm nahestehender Menschen erleben und kam selbst in die Nähe des Todes. Er verspürte den Wunsch, sich aus dem politischen Leben in Bordeaux zurückzuziehen und ein geruhsameres Leben zu beginnen, und noch etwas geschah: Seine Frau wurde mit ihrem ersten Kind schwanger. Die Erwartung eines neuen Lebens wurde von der Erfahrung des Todes überschattet. Beides gemeinsam veränderte seine bisherige Existenz.
Montaignes Entschluss wurde den großen Lebensumbrüchen bedeutender Protagonisten der Weltliteratur an die Seite gestellt: Don Quijote, der aufbrach, um Ritterabenteuer zu suchen; oder Dante, der sich «in seines Lebens Mitte» in einem dunklen Wald verirrte. Montaignes Schritte in das Gestrüpp des Waldes in der Mitte seines eigenen Lebens und wie er wieder herausfand — beides hinterließ Spuren: die Spuren eines Menschen, der strauchelt, stürzt und sich wieder aufrappelt.
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