Später berichtete man ihm, er habe sich hin- und hergeworfen und versucht, mit den Fingernägeln sein Wams aufzureißen, als wolle er sich einer Last entledigen. «Mein Magen war damals von dem geronnenen Blut übervoll, und meine Hände fuhren ganz von selbst dorthin, wie sie oft gegen das Geheiß unsres Willens an die Stelle fahren, wo es uns juckt.» Es schien, als wolle er seinen Körper in Stücke reißen oder sich seiner entledigen, damit seine Seele entweichen konnte. Dabei fühlte er sich innerlich ganz ruhig:
Mir schien mein Leben nur noch am Rande der Lippen zu hängen, und ich schloss die Augen, als wollte ich so mithelfen, es ganz zu vertreiben; ich genoss es, mich der Mattigkeit hinzugeben und mich gehnzulassen. Es war ein Empfinden, das nur leicht über die Oberfläche meiner Seele streifte, so schwach und so hauchzart wie alles Übrige — und dabei nicht nur jedes Unbehagens bar, sondern zudem von der wohligen Süße durchdrungen, die man verspürt, wenn man in den Schlaf hinübergleitet.
Er war in einem Zustand der inneren Ermattung und äußeren Unruhe, als die Bediensteten ihn ins Haus trugen. Seine Angehörigen bemerkten den Aufruhr und liefen zu ihm hinaus — «mit dem bei solchen Widerfahrnissen üblichen Geschrei», wie er es später ausdrückte. Sie wollten wissen, was passiert war. Montaigne konnte Antwort geben, aber nur unzusammenhängend. Er sah seine Frau auf dem holprigen Weg näher kommen und erwog, seinen Männern zu befehlen, ihr ein Pferd zu bringen. Man könnte meinen, diese Überlegung sei «von einer wachen Seele ausgegangen», schrieb er, «und doch war ich ganz woanders». Es handelte sich «um ungreifbare, nebelartig hin und her wabernde Gedanken, die von den äußeren Wahrnehmungen der Augen und Ohren in Bewegung gesetzt wurden; sie tauchten nicht aus meinem Innern auf [ ils ne venayent pas de chez moy ]». Alle diese Bewegungen und Worte brachte der Körper ganz allein hervor. «Was die Seele dazu beitrug, tat sie träumend, ganz leise angerührt vom weichen Druck der Sinne, wie angehaucht von ihnen und nur leicht benetzt.» Montaigne und das Leben, so schien es, waren im Begriff, voneinander zu scheiden, ohne Bedauern oder förmlichen Abschied — wie zwei betrunkene Gäste, die beim Verlassen des Festes viel zu benebelt sind, um sich voneinander zu verabschieden.
Seine Verwirrung hielt an, nachdem er im Haus war. Er fühlte sich, als schwebte er auf einem Zauberteppich, er spürte keine Schmerzen und keine Angst beim Anblick all der besorgten Menschen um ihn herum, nur Mattigkeit und Schwäche. Seine Diener brachten ihn zu Bett, und ein unbeschreiblich sanftes und friedliches Gefühl erfüllte ihn, ohne dass er im Geringsten über seinen Körper nachdachte. «Ich empfand ein unsägliches Wohlgefühl in dieser Ruhe, denn ich war von den armen Leuten übel herumgezerrt worden, die sich die Mühe aufgebürdet hatten, mich über einen langen und äußerst schlechten Weg auf ihren Armen zu tragen.» Er lehnte jede Arznei ab, überzeugt, dass er sterben werde. Es wäre «fürwahr ein seliger Tod gewesen».
Diese Erfahrung des Sterbens war ganz anders, als Montaigne es sich bis dahin vorgestellt hatte. Er hatte eine Reise an die Grenze des Todes unternommen, war ihm ganz nah gekommen, hatte ihn mit seinen Lippen berührt und gekostet wie ein unbekanntes Aroma. Dies war ein essai über den Tod: eine Übung oder exercitation — dies ist das Wort, das Montaigne verwendete, als er über diese Erfahrung schrieb. Später spielte er seine Empfindungen immer und immer wieder durch und rekonstruierte sie so genau wie möglich, um daraus zu lernen. Das Schicksal hatte ihm die Chance gegeben, den philosophischen Konsens über den Tod am eigenen Leib zu erfahren. Aber er war nicht sicher, ob er die richtige Antwort gefunden hatte. Die Stoiker hätten seine Schlussfolgerungen sicher missbilligt.
Teile der Lektion waren aber ganz im Einklang mit den Philosophen: Diese exercitation lehrte ihn, die eigene Nichtexistenz nicht zu fürchten. Der Tod konnte ein freundliches Gesicht haben, wie es die Philosophen versprochen hatten. Montaigne hatte ihm ins Auge geblickt, aber nicht mit scharfem Verstand, wie es einem Vernunftmenschen angemessen gewesen wäre. Statt mit offenen Augen auf den Tod zuzumarschieren, tapfer wie ein Soldat, hatte er sich mit kaum einem klaren Gedanken in diesen Zustand fallen lassen, von ihm verführt. Beim Sterben, so erkannte er jetzt, begegnet man keineswegs dem Tod, denn man ist schon vorher nicht mehr da. Man stirbt, als würde man in den Schlaf hinübergleiten. Die Stimmen derjenigen, die einen festzuhalten versuchen, streifen einen nur «an der Oberfläche der Seele». Das eigene Leben hängt an einem Faden, «nur noch am Rande der Lippen», wie Montaigne sich ausdrückte. Das Sterben war nichts, auf das man sich vorbereiten konnte. Die Vorstellung, man könne «sterben lernen», war ein Hirngespinst.
Von nun an interessierte sich Montaigne weniger für den exemplarischen Tod der großen Philosophen als vielmehr für den Tod der einfachen Leute, besonders jener, die in einem Dämmerzustand starben, verloren in «Ermüdung und Entkräftung». In seinen reifsten Essais schrieb er voll Bewunderung über die Römer Petronius und Tigellinus, die inmitten von Scherzen, Musik und Alltagsgesprächen den Tod gleichsam einlullten, umgeben von einer allgemeinen Fröhlichkeit. Statt ein Fest in eine Todesszene zu verwandeln, wie es Montaigne in seiner jugendlichen Phantasie getan hatte, machten sie aus ihrem Sterben ein Fest. Besonders gefiel ihm die Geschichte von Marcellinus, der einen qualvollen Tod durch Krankheit vermeiden wollte und zu einer sanften Sterbehilfe Zuflucht nahm: Nachdem er mehrere Tage gefastet hatte, nahm er ein sehr heißes Bad. Bereits geschwächt von der Krankheit, raubte ihm das Bad die letzte Lebenskraft. Er sank langsam in Bewusstlosigkeit und hauchte sein Leben aus, während er seinen Freunden zumurmelte, was für ein Wohlgefühl ihn dabei durchströme.
Man kann sich vorstellen, dass ein Tod wie der des Marcellinus angenehm war. Aber Montaigne hatte noch etwas viel Überraschenderes gelernt: dass er dasselbe Gefühl des sanften Hinübergleitens auch dann empfand, wenn sich sein Körper wand und scheinbar in Schmerzen hin- und herwarf.
Diese Entdeckung widersprach dem, was ihn die antiken Philosophen gelehrt hatten. Sie widersprach aber auch dem christlichen Ideal seiner eigenen Epoche. Ein Christ empfahl in seinem letzten Augenblick nüchtern seine Seele Gott, er starb nicht mit einem glückseligen «Aaaaah …» auf den Lippen. In Montaignes Todeserfahrung spielte der Gedanke an Gott offenkundig keine Rolle. Und ihm schien auch nicht einzufallen, dass ein Mensch, der betrunken und von Huren umgeben starb, ein Leben nach dem Tod im christlichen Sinn verwirkt haben könnte. Ihn interessierte vielmehr die sehr profane Erkenntnis, dass die menschliche Psyche und die Natur ganz allgemein die besten Freunde eines Sterbenden waren. Und jetzt schien es ihm, dass die Einzigen, die so tapfer starben, wie es dem Idealbild des Philosophen entsprach, von Philosophie überhaupt keine Ahnung hatten: die ungebildeten Bauern auf den Gütern und Dörfern der Umgebung. «Ich habe in meiner Nachbarschaft noch nie einen Bauern darüber nachgrübeln sehen, mit wie großer Fassung und Festigkeit er seine letzte Stunde durchstehn werde», schrieb er. Bei ihnen übernahm die Natur die Führung. Die Natur lehrte diese Menschen, erst dann an den Tod zu denken, wenn der Augenblick des Sterbens gekommen war, und selbst dann kaum. Den Philosophen fiel es schwer, die Welt zu verlassen, weil sie die Kontrolle nicht verlieren wollten. So viel zu «Philosophieren heißt sterben lernen». Die Philosophie schien den Menschen eher beizubringen, jene natürliche Fähigkeit zu verlernen , die einem Bauern angeboren war.
Читать дальше