Doch seine sterblichen Überreste ohne das Herz wurden in die Kirche des Feuillantenordens gebracht, eine weitere merkwürdige Entscheidung und offenkundig nicht die erste Wahl. Zuerst hatte man ihn in der Kathedrale Saint-André in Bordeaux bestatten wollen, wofür am 15. Dezember 1592 die Erlaubnis erteilt wurde. Damit hätte er an der Seite der Angehörigen von Françoises Familie, nicht seiner eigenen, gelegen. Doch dann überlegte Françoise es sich anders, vielleicht weil sie oder Montaigne den Feuillanten nahestand. Montaigne hatte in den Essais seine Wertschätzung für diesen Orden bekundet. Die Entscheidung wird den Mönchen gefallen haben. Montaignes Grabstätte und die regelmäßigen Messen für sein Seelenheil brachte ihnen beträchtliche Summen ein, mit denen sie den Innenraum renovierten. Montaigne erhielt ein Grabmal, das bis heute existiert. Es zeigt ihn in der Rüstung eines Ritters, die Hände zum Gebet gefaltet. Zwei Grabinschriften, eine in griechischer, die andere in lateinischer Sprache, feiern seinen christlichen Pyrrhonismus, seine Treue zum Gesetz und zur Religion seiner Vorfahren, seine «sanften Sitten», die überlegene Urteilskraft, seine Aufrichtigkeit und Tapferkeit. Der lateinische Text endet mit den anrührenden Worten:
Françoise de La Chassaigne, ewiger Trauer zur Beute, ließ dieses Grabmal errichten zur Erinnerung an ihren Gatten, den sie zu Recht betrauert. Er hatte keine andere Gattin; sie wird nie einen anderen Gatten haben.
Schließlich wurde sein Leichnam ohne das Herz am 1. Mai 1594, eineinhalb Jahre nach seinem Tod, in diesem Grab zur Ruhe gebettet. Doch es blieb nicht seine letzte Ruhestätte. Zehn Jahre später begannen Erweiterungsarbeiten an der Kirche, und ihr Grundriss wurde verändert. Damit hätte Montaignes Grab weit entfernt vom neuen Standort des Altars gelegen: ein Bruch mit der Vereinbarung, die Françoise mit den Mönchen getroffen hatte. Sie zog gegen die Feuillanten vor Gericht und gewann. 1614 mussten sie das Grab an eine prominentere Stelle in der neuen Kirche umsetzen.
Es vergingen friedliche Jahre und Jahrzehnte bis zur Französischen Revolution neun Generationen später. Der nun säkulare Staat hob neben den anderen religiösen Kongregationen auch den Feuillantenorden auf und beschlagnahmte dessen Besitz einschließlich der Kirche samt Inventar. Montaigne wurde damals als Held der Aufklärung und als freidenkerischer Philosoph verehrt, der alle Ehrungen des revolutionären Regimes verdient hatte. Sein Grab dort zu belassen, wo es lag, erschien nicht richtig. Im Jahr 1800 beschloss man daher, ihn zu exhumieren und in der großen neuen, weltlichen Kathedrale von Bordeaux neu zu bestatten: der Académie des sciences, belles-lettres et arts. Begleitet von einer Kavallerieabteilung und von Bläserfanfaren wurden seine sterblichen Überreste in einer feierlichen Prozession in die Akademie überführt.
Zweieinhalb Jahre später machte ein Bibliothekar in den Akten der Akademie von Bordeaux eine peinliche Entdeckung: Der exhumierte Leichnam war gar nicht der von Montaigne, sondern der von Marie de Brian, einer Nichte seiner Frau, die zusammen mit anderen Mitgliedern der Familie im selben Grab bestattet worden war. In aller Stille und ohne Fanfarenklänge wurde sie an ihren alten Platz zurückgebracht. Montaigne blieb, wo er die ganze Zeit gewesen war, in dem ursprünglichen Grab. Jener Mann, der Umbauten, idealistische «Neuerungen» und unnötigen Aufruhr lebenslang verabscheut hatte, war also von der Revolution verschont geblieben, die über ihn hinweggeglitten war wie eine Welle über den Grund des Meeres.
Montaignes Grabmal in der Église des Feuillants in Bordeaux
Im Mai 1871 wurde die Kirche durch einen Brand zerstört. Das Grabmal blieb weitgehend unbeschädigt, war aber nun in den Ruinen der Kirche fast ein Jahrzehnt lang Wind und Wetter ausgesetzt. Im Dezember 1880 wurde das Grab geöffnet, um den Zustand der sterblichen Überreste zu begutachten: die Bleihülle um seinen Leichnam war auseinandergefallen. Ein neuer Eichensarg wurde angefertigt. Das restaurierte Grabmonument blieb fünf Jahre lang im Depot des Cimetière de la Chartreuse von Bordeaux, bevor es am 11. März 1886 in der Eingangshalle eines neuen Gebäudes der Universität Bordeaux aufgestellt wurde, in dem die theologische, die naturwissenschaftliche und die philologische Fakultät untergebracht waren. Heute nimmt es im Musée d’Aquitaine in Bordeaux einen exponierten Platz ein.
Ein abenteuerlicheres Schicksal für jemanden, der sich in seinem Leben dem Lauf der Dinge so bereitwillig überließ und sich der Fehlbarkeit menschlichen Mühens und Trachtens so bewusst war, ist kaum vorstellbar. Noch nach seinem Tod wurde Montaigne immer wieder in den Strudel des Lebens hineingezogen, jedenfalls erstarrte er nicht in ewigem Gedenken. Sein eigentliches Vermächtnis jedoch ist das turbulente Schicksal der Essais , seines sich stetig weiterentwickelnden zweiten Ichs. Sie blieben lebendig — und für Montaigne war das Leben das Einzige, was zählte. Diesen Gedanken aus Montaignes letztem Essai griff Virginia Woolf immer wieder auf. Es war die ultimative Antwort auf die Frage, wie man leben soll.
Das Leben muss […] auf sich selber gerichtet sein, sich selber wollen.
Das ist entweder keine oder die einzig mögliche Antwort. Sie ist vergleichbar mit der Antwort des Zen-Meisters, der auf die Frage «Was ist Erleuchtung?» dem Fragenden mit einem Stock einen Schlag auf den Kopf versetzt. Erleuchtung ist etwas, was man am eigenen Körper erfährt. Sie nimmt die Form dessen an, was einem zustößt. Deshalb übermitteln die Stoiker, Epikureer und Skeptiker auch Übungen und keine Vorschriften. Ein Philosoph kann nicht mehr anbieten als diesen Schlag auf den Kopf: eine nützliche Technik, ein Gedankenexperiment oder eine Erfahrung — in Montaignes Fall die Erfahrung der Lektüre der Essais . Der Gegenstand, den er lehrt, ist er selbst, ein ganz gewöhnliches Lebewesen.
Die Essais präsentieren zwar jedem Leser eine andere Facette, doch alle diese Lesarten sind durch die Figur Montaignes miteinander verbunden. Das ist auch der Grund, weshalb Montaigne gelesen wird wie wenige andere seines Jahrhunderts oder überhaupt ein Schriftsteller irgendeiner Epoche. Die Essais sind seine Versuche. Sie erkunden und erforschen ein Bewusstsein, das sich selbst ein Ich ist, wie jedes Bewusstsein.
Man könnte fragen, ob für einen Essayisten wie Montaigne heute überhaupt noch Bedarf besteht. Die Menschen in den Industrienationen des 21. Jahrhunderts sind krasse Individualisten, und sie sind gleichzeitig so eng miteinander vernetzt, wie es sich ein Weingutsbesitzer des 16. Jahrhunderts niemals hätte träumen lassen. Montaignes Ichgefühl könnte man als banal abtun. Doch er hat mehr zu bieten als die Aufforderung, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Das 21. Jahrhundert hat von seinem Lebensgefühl viel zu lernen — und in seinen schwierigsten Phasen fehlte ihm bisher eine montaignische Strategie: das Gefühl für Mäßigung; Geselligkeit und Höflichkeit, die er so liebte; die Urteilsenthaltung und das subtile Verständnis der psychologischen Mechanismen angesichts von Konfrontation und Konflikt. Wir brauchen heute Montaignes Überzeugung, dass keine himmlischen oder apokalyptischen Visionen, keine Allmachtsphantasien auch nur das kleinste Ich in der realen Welt überstrahlen können. Für Montaigne ist «jene sehr alte und von allen Religionen geteilte Auffassung [undenkbar], dass wir den Himmel und die Natur durch Mord und Totschlag besänftigen könnten». Wer glaubt, das Leben könne dies von uns verlangen, verkennt den überragenden Wert der alltäglichen Existenz. Er vergisst, dass ein Welpe, den du in einem Eimer Wasser ertränken willst, oder eine Katze, die gern spielen möchte, dich genauso betrachtet wie du sie: zwei Individuen, die einander Auge in Auge gegenüberstehen und Gutes voneinander erwarten.
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