Da es zu Lebzeiten Montaignes und La Boéties noch kein Urheberrecht gab und das Abschreiben als literarische Technik hoch im Kurs stand, hatte man sehr viel mehr Freiheiten als heute. Jeder konnte nach Lust und Laune Teile der Essais herausnehmen und separat veröffentlichen. Er konnte kürzen oder erweitern, unliebsame Passagen streichen, die Kapitel in eine neue Reihenfolge bringen oder unter einem anderen Namen publizieren. Ein oder mehrere Kapitel konnten herausgelöst und in einem schmalen, handlichen Band veröffentlicht werden — für Leser, deren Bizeps zu schwach war, das ganze Werk zu stemmen. Man konnte eine Entrümpelungsfirma engagieren: Eine furchtlose Bearbeiterin wie Honoria war in der Lage, ein zwanzigseitiges zielloses Geplauder Montaignes auf zwei Seiten zusammenzustreichen, die — ganz unmontaignisch — das im Titel angekündigte Thema behandelten.
Einige Herausgeber griffen noch tiefer in den Text ein. Statt eine Auswahl zusammenzustellen, haben sie die Ärmel hochgekrempelt und die Essais ausgeweidet wie eine Weihnachtsgans, um etwas völlig Neues zu schaffen. Der wichtigste von ihnen ist zugleich der früheste und bekannteste: Montaignes Freund und Zeitgenosse Pierre Charron, dem mit seiner Abhandlung De la Sagesse (Von der Weisheit) ein Bestseller des 17. Jahrhunderts gelang. Montaigne hätte sich kaum wiedererkannt, doch es sind im Wesentlichen die Essais unter einem anderen Titel und in einem anderen Format. Man sprach von einem «Remake», und man könnte es auch als «Remix» bezeichnen, doch keiner der beiden Begriffe beschreibt genau, wie sehr sich dieses Werk vom Geist des Originals entfernt hat. Charron schuf einen Montaigne ohne Idiosynkrasien, ohne Zitate und Abschweifungen, ohne Ecken und Kanten oder persönliche Enthüllungen irgendwelcher Art. Er gab den Lesern etwas, dem sie widersprechen oder mit dem sie einverstanden sein konnten: Feststellungen, die sich nicht länger der Interpretation entzogen oder sich auflösten wie Nebelschwaden. Aus Montaignes ungeordneten Gedanken über die Beziehung zwischen Mensch und Tier extrahierte Charron den folgenden, sauber gegliederten Aufbau:
Merkmale, die Tiere und Menschen gemeinsam haben
Merkmale, die Tiere und Menschen nicht gemeinsam haben
Merkmale, die den Menschen zum Vorteil gereichen
Merkmale, die den Tieren zum Vorteil gereichen
Allgemeine
Besondere
Merkmale von umstrittenem Vorteil
Das ist eindrucksvoll — und langweilig, so langweilig, dass De la Sagesse immensen Erfolg hatte. Dadurch ermuntert, brachte Charron einen komprimierten Petit traité de la sagesse heraus, der sich gleichfalls gut verkaufte. Im Laufe des 17. Jahrhunderts begegneten immer mehr Leser Montaigne in der von Charron zurechtgestutzten Form, weshalb sie in der Lage waren, seinen pyrrhonischen Skeptizismus zu verstehen und gedanklich nachzuvollziehen. (Wenn Pascal ihn dennoch empörend schwer fassbar fand, dann deshalb, weil er das Original las.) Marie de Gournay allerdings missbilligte Charrons Verfahrensweise. In der Vorrede zu ihrer Ausgabe der Essais von 1635 nennt sie ihn einen «schlechten Abschreiber» und fügt hinzu, der einzige Grund, warum man ihn lesen sollte, sei, dass er einem das Genie des echten Montaigne in Erinnerung rufe.
Charrons Nachfolger im 17. und 18. Jahrhundert präsentierten einen erneuten Remix Montaignes, und manchmal remixten sie auch Charron. Solange die Essais auf dem Index standen, waren Remixes und Remakes die einzige Form, in der das Buch in Frankreich überhaupt veröffentlicht werden konnte. Deshalb wurde der Markt mit schmalen Bändchen überschwemmt, deren Texte nicht Montaigne zugeschrieben wurden, oder mit Werken, deren Titel wie L’Esprit des Essais de Montaigne (Der Geist von Montaignes Essais) oder Penseés de Montaigne (Gedanken Montaignes) die reine Essenz suggerierten. Die Penseés de Montaigne waren ein auf 214 Seiten zusammengeschnurrtes Destillat, in dessen Einleitung es hieß: «Nur wenige Bücher sind so schlecht, dass nichts Gutes in ihnen zu finden ist, und nur wenige sind so gut, dass sie nichts Schlechtes enthalten.»
Bis heute werden immer wieder gekürzte Ausgaben großer Werke der Weltliteratur auf den Markt geworfen. Der Verleger einer solchen jüngst erschienenen Reihe wurde mit den Worten zitiert: « Moby Dick muss schon im Jahr 1850 schwierig gewesen sein — im Jahr 2007 ist es nahezu unmöglich, sich darin zurechtzufinden.» Doch wenn man dem Moby Dick zu viel Walfischspeck wegschneidet, bleibt irgendwann überhaupt kein Wal mehr übrig. Auch der «Geist» von Montaignes Essais lebt in dem, was Verleger am liebsten ganz herausschneiden würden: in seinen Exkursen und Kehrtwendungen und in seiner sprunghaften Gedankenbewegung. Kein Wunder, dass Montaigne selbst sich genötigt sah zu sagen: «Jeder Auszug aus einem gescheiten Buch ist dumm.»
Trotzdem wusste auch er, dass Lesen immer ein selektiver Prozess ist. Auch er traf eine Auswahl, wenn er ein Buch zur Hand nahm, und umso entschiedener, wenn er es gelangweilt zur Seite legte. Montaigne las nur, was ihn interessierte; seine Leser und Herausgeber verfahren mit ihm genauso. Und so ist jede Lektüre der Essais letztlich ein Esprit des Essais de Montaigne , selbst die eines Wissenschaftlers.
Vielleicht sind Wissenschaftler sogar besonders anfällig für dieses selektive Lesen. Moderne Kritiker neigen in extremem Maß zu Remixes und Remakes eines Montaigne, der ihnen selbst ähnlich ist, individuell wie gattungsspezifisch. So, wie die Romantiker einen romantischen Montaigne, die viktorianischen Moralisten einen Moralisten und die Engländer einen englischen Montaigne suchten und fanden, so stürzen sich die «dekonstruktivistischen» oder «postmodernen» Kritiker des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts voller Begeisterung auf das, wofür sie selbst prädisponiert waren: einen dekonstruktivistischen und postmodernen Montaigne. Dieser Montaigne ist dem zeitgenössischen Kritiker so vertraut geworden, dass man sich schon gewaltig anstrengen muss, um einen Schritt zurückzutreten und zu erkennen, was er tatsächlich ist: ein Artefakt oder jedenfalls ein kreativer Remix.
Postmoderne Denker betrachten die Welt als ein sich beständig veränderndes System von Bedeutungen, und so konzentrieren sie sich auf einen Montaigne, der die Welt als «ein ewiges Auf und Ab» und den Menschen als «ein seltsam wahnhaftes, widersprüchliches, hin und her schwankendes Wesen» bezeichnet, «in sich selber doppelt». Überzeugt, es könne kein objektives Wissen geben, fühlen sie sich zu Montaignes Gedanken über sich verändernde Perspektiven und den Zweifel hingezogen. (Auch dieses Buch ist gegen diese Versuchung nicht immun, ist es doch gleichfalls ein Kind seiner Zeit.) Das ist verführerisch, schmeichelhaft: Man blickt in den Spiegel seiner Montaigne-Ausgabe, und noch ehe man die berühmte Frage der Königin aus Schneewittchen gestellt hat, kommt schon die Antwort: « Du bist die Schönste im ganzen Land.»
Ein Grundzug macht die neuere kritische Literaturtheorie ganz besonders anfällig für diesen Effekt des magischen Spiegels: ihre Neigung, über den Text zu sprechen statt über den Autor. Statt sich zu fragen, was Montaigne «wirklich» hatte sagen wollen, oder den historischen Kontext zu untersuchen, betrachtet man vorrangig das Geflecht der Assoziationen und Bedeutungen, welches wie ein riesiges Fischernetz ausgeworfen werden kann, in dem alles hängen bleibt. Das ist nicht nur ein Wesensmerkmal des strikten Postmodernismus. Auch die neuere psychoanalytische Literaturkritik überträgt ihre Analyse auf die Essais statt auf den Menschen Montaigne. Manche scheinen dem Buch geradezu ein Unterbewusstsein zuzuschreiben. Wie ein Psychoanalytiker die Träume eines Patienten deuten kann, um herauszufinden, was darunter verborgen ist, so kann auch ein Kritiker die Etymologie, den Klang, versehentliche Ausrutscher, ja sogar Druckfehler untersuchen, um unterschwellige Bedeutungsschichten freizulegen. Montaigne hatte nicht die Absicht, geheime Bedeutungen in seinem Werk zu verstecken, aber das spielt keine Rolle, da der Text seinen eigenen Weg geht.
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