Die Idee, Montaignes Herausgeberin und Verwalterin seines literarischen Nachlasses zu werden, entstand offenkundig erst nach seinem Tod, als seine Witwe und Tochter ein mit Anmerkungen von seiner Hand versehenes Exemplar der Ausgabe von 1588 unter seinen Papieren fanden. Sie schickten es Marie de Gournay nach Paris. Vielleicht wollten sie lediglich, dass sie es an einen geeigneten Verleger übergab, aber Gournay sah darin einen großen editorischen Auftrag und machte sich an die Arbeit: eine gewaltige Aufgabe und so schwierig, dass sie selbst Herausgeber überforderte, die sehr viel erfahrener und besser gerüstet waren als Marie de Gournay. Bis heute herrscht in der wissenschaftlichen Forschung Uneinigkeit, so zahlreich sind die Varianten, so kompliziert ist der Text und so groß die Schwierigkeit, sämtliche Bezüge und Anspielungen Montaignes zu identifizieren. Dennoch: Gournay meisterte ihre Aufgabe brillant. Vielleicht erlag sie der Versuchung und fügte die strittigen Zeilen über sich selbst hinzu, vielleicht sind sie aber auch authentisch. Insgesamt arbeitete Gournay sorgfältiger als die meisten Herausgeber ihrer Zeit. Bis heute überlieferte Exemplare der Erstausgabe der von ihr edierten Essais zeigen, dass sie noch in den Druckfahnen Korrekturen vornahm und auch nach der Veröffentlichung unermüdlich weiterkorrigierte — ein Zeichen dafür, wie sehr ihr daran lag, alles richtig zu machen.
Von nun an würde sie weniger Montaignes Tochter als vielmehr die Adoptivmutter seiner Essais sein. «Nachdem die Essais ihren Vater verloren haben», schrieb sie, «brauchen sie einen Beschützer.» Sie bereitete die Ausgabe vor, verteidigte und warb für sie und verfasste eine lange, kämpferische Vorrede, die jeglicher Kritik den Wind aus den Segeln nehmen sollte. Ihre Argumentation war weitgehend rational und logisch aufgebaut, aber mit viel Emotion gewürzt. Denen, die seinen Stil als vulgärsprachlich oder unrein betrachteten, hielt sie entgegen: «Wenn ich ihn gegen solche Angriffe verteidige, bin ich voller Verachtung.» Und zu dem Vorwurf, er habe konfus geschrieben, meinte sie: «Man kann große Dinge nicht nach Maßgabe eines kleinen Verstandes behandeln […]. Hier ist nicht das Grundwissen eines Lehrlings, sondern der Koran der Meister, die Quintessenz der Philosophie.»
Auch halbherziges Lob der Essais stellte sie nicht zufrieden. «Wer den Scipio einen edelmütigen General und Sokrates einen Weisen nennt, tut ihnen größeres Unrecht an, als der, welcher von ihnen schweigt.» Man könne über Montaigne nicht in gemäßigtem Ton sprechen: Er sei «über alles Maß erhaben». (So viel zu Montaignes Idee der Mäßigung.) Man müsse «hingerissen» sein, so wie sie. Andererseits sollte man in der Lage sein, diese Hingerissenheit zu begründen. Man müsse Montaigne Punkt für Punkt mit den antiken Autoren vergleichen und den Nachweis führen, wo er ihnen ebenbürtig und wo überlegen sei. Für Marie de Gournay waren die Essais ein idealer Intelligenztest. Die Antwort ihrer Gesprächspartner auf die Frage, was sie über das Buch dächten, bildete für sie die Grundlage der Bewertung ihres Gegenübers. Diderot äußerte sich später ähnlich: Montaignes Buch sei «der Prüfstein für einen gesunden Geist. Wenn es jemandem missfällt, kann man sicher sein, dass er einen Fehler des Herzens oder des Verstandes hat.»
Marie de Gournay jedoch hatte das Recht, von ihren Lesern viel zu erwarten, war sie doch selbst eine hervorragende Leserin Montaignes. Trotz ihrer Maßlosigkeit besaß sie ein sicheres Gespür dafür, warum dieses Buch einen Platz unter den klassischen Autoren verdient hatte. In einer Zeit, da die Essais vielfach als eine Sammlung stoischer Sprüche betrachtet wurden — eine so weit legitime Interpretation —, bewunderte sie Montaignes Stil, seine Weitschweifigkeit, seine Bereitschaft, alles von sich offenzulegen. Gournay hatte das Gefühl, alle anderen verkannten den entscheidenden Aspekt jenes die Zeiten überdauernden Mythos Montaigne, eines Schriftstellers, der zur falschen Zeit geboren worden war und auf Leser warten musste, die seinen wahren Wert erkannten. Aus dem Autor, der populär geworden war, ohne dass er sich dafür besonders angestrengt hätte, machte sie ein missverstandenes Genie.
Gournay störte es nicht, in Montaignes Schatten zu stehen: «Ich kann keinen Schritt tun, sei es schreibend oder sprechend, ohne mich in seinen Fußstapfen zu finden.» In Wirklichkeit kommt ihre eigene Persönlichkeit stets klar und deutlich zum Vorschein, oft als krasser Gegensatz zu seiner. Wenn sie Montaignes Tugenden preist, seine Mäßigung zum Beispiel, dann auf maßlos übertriebene Weise. Wenn sie für den stoischen Gleichmut und eine ruhige Lebensführung plädiert, dann emotional und schrill. Und damit wird ihre Edition zu einem spannenden Ringkampf zwischen zwei Schriftstellern, ähnlich wie zwischen Montaigne und Florio oder zwischen Montaigne und La Boétie in den ersten Versuchen jener Konversation, die die Essais sind.
In verschiedener Hinsicht war es eine literarische Partnerschaft derselben Art, allerdings kompliziert durch die Tatsache, dass Marie de Gournay eine Frau war. Es ärgerte sie, dass diese Partnerschaft nie so ernst genommen wurde wie andere, ähnliche Beziehungen — und sie selbst auch nicht. Ihr Leben lang begegnete man ihr mit Spott und Häme, die sie nie auf die leichte Schulter nehmen konnte. Sie schäumte vor Wut, die auch in ihrer Vorrede zu den Essais zum Ausdruck kommt. Bisweilen hat man das Gefühl, sie packe ihre männlichen Leser buchstäblich am Kragen und schimpfe sie aus. «Glücklich bist du, Leser, wenn du nicht jenem Geschlecht angehörst, dem man alle Güter verwehrt, jegliche Freiheit, ja sogar jegliche Tugend.» Den törichtesten Männern höre man respektvoll zu, nur weil sie einen Bart tragen, wenn jedoch eine Frau es wagt, sich zu äußern, lächle man nur herablassend, als wollte man sagen: «Hier spricht eine Frau.» Hätte man Montaigne so behandelt, hätte er womöglich gleichfalls nur gelächelt, Marie de Gournay aber verfügte nicht über diese Gabe der Gelassenheit. Und je deutlicher sie ihre Wut zeigte, desto mehr wurde sie verlacht. Doch genau dieses Gequälte macht ihre Faszination aus. Ihre Vorrede ist nicht nur die früheste veröffentlichte Einführung in Montaignes Werk, sie ist eines der frühesten und eloquentesten feministischen Traktate überhaupt.
Als Einführung in das Werk eines Autors, der nicht gerade dafür bekannt war, dass er für die Frauen Partei ergriff, mag dies merkwürdig erscheinen. Aber Gournays Feminismus ist von ihrem «Montaignismus» nicht zu trennen. Ihre Überzeugung von der Gleichheit von Mann und Frau — die auch durch die unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensumstände nicht aufgehoben werde — entsprach seinem Relativismus. Sie ließ sich davon inspirieren, dass er soziale Konventionen in Frage stellte, dass er zwischen verschiedenen Standpunkten hin und her sprang. Wenn die Männer ihre Phantasie dazu nutzen würden, die Welt wie eine Frau zu sehen, und sei es nur für ein paar kurze Augenblicke, würden sie ihr Verhalten grundlegend ändern, davon war Marie de Gournay überzeugt. Doch genau diesen Perspektivwechsel brachten sie offenkundig nicht zustande.
Kurz nach der Veröffentlichung ihrer Ausgabe der Essais dachte sie dann doch noch einmal über ihre mehr als temperamentvolle Vorrede nach. Zu diesem Zeitpunkt war sie auf Montaignes Anwesen: als Gast von Montaignes Witwe, Mutter und Tochter, die sie aus Freundschaft, Loyalität oder Sympathie in ihren Kreis aufgenommen hatten. Von dort schrieb sie am 2. Mai 1596 an Lipsius, sie habe die Vorrede von Trauer überwältigt geschrieben und wolle sie jetzt zurückziehen. Der übersteigerte Ton sei das Ergebnis eines «heftigen Seelenfiebers» gewesen. Kurze Zeit später sandte sie korrigierte Exemplare der Essais an potentielle Verleger in Basel, Straßburg und Antwerpen, in denen sie das lange durch ein zehnzeiliges neues, nichtssagendes Vorwort ersetzt hatte. Das Original blieb einstweilen in ihrer untersten Schublade, Teile davon tauchten in veränderter Form in einer Ausgabe des Proumenoir von 1599 wieder auf. Noch später bereute sie, dass sie bereut hatte: Die letzten Ausgaben der Essais zu ihren Lebzeiten enthalten die ursprüngliche Vorrede in all ihrem herrlichen Überschwang.
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