Das Spiel ging weiter. Eine Zeitlang lag Armaingaud vorn, doch dann geriet seine Arbeit ins Stocken. Er isolierte sich auch mit unorthodoxen Ansichten über Montaigne, insbesondere mit der Behauptung, dieser sei der wahre Verfasser des Traktats Von der freiwilligen Knechtschaft . Wie Marie de Gournay vor ihm und viele Literaturtheoretiker nach ihm betrachtete er sich als denjenigen, der bei Montaigne geheime Bedeutungsebenen zu entdecken vermochte. Wie es einer seiner Konkurrenten sarkastisch formulierte: «Er allein kennt ihn bis auf den Grund, er allein kennt seine Geheimnisse, er allein kann in seinem Namen sprechen und sein Denken interpretieren.» Armaingaud arbeitete zumindest weiter, wenn auch im Schneckentempo, doch Strowski wurde jetzt von anderen Projekten abgelenkt und brachte den letzten Band seiner Edition nicht zum Abschluss. Schließlich übertrugen die Behörden von Bordeaux, die seine Herausgebertätigkeit finanzierten, die Leitung François Gébelin, der 1919 den letzten Band vorlegte, fünfzig Jahre nachdem das Unternehmen in Angriff genommen worden war. Kommentar- und Konkordanzbände folgten 1921 und 1933 unter Federführung des umsichtigen Montaigne-Forschers Pierre Villey, dessen Leistung umso bemerkenswerter ist, da er seit seinem dritten Lebensjahr blind war. Er schloss seine Arbeit gerade noch rechtzeitig vor Beginn der Feierlichkeiten in Bordeaux zu Montaignes vierhundertstem Geburtstag im Jahr 1933 ab, doch die Organisatoren vergaßen, ihn einzuladen. Unterdessen hatte auch Armaingaud seine Ausgabe abgeschlossen, so dass schließlich zwei hervorragende Transkriptionen der Essais vorlagen. Beide Editionen hatten ein wichtiges Grundelement gemeinsam: Nachdem die Herausgeber so hart um den Zugang zu dem Bordeaux-Exemplar gekämpft hatten, orientierten sie sich ausschließlich an dieser Textfassung und ignorierten Marie de Gournays Ausgabe fast vollständig. Sie teilten auch die höchst unmontaignische Neigung, in allen Fragen der wissenschaftlichen Textedition das letzte Wort haben zu wollen.
Die beiden Ausgaben blieben für den Rest des 20. Jahrhunderts maßgeblich. Diejenige von 1595 diente von nun an nur noch zum Nachschlagen gelegentlicher Wortvarianten, der Verweis auf diese Ausgabe erfolgte in den Fußnoten. Ansonsten wurden kleine Variationen als Beleg für Marie de Gournays nachlässige Herausgebertätigkeit betrachtet. Man ging davon aus, dass auch Gournay das Bordeaux-Exemplar als Vorlage benutzt und transkribiert, dabei jedoch ein Durcheinander angerichtet hatte.
Doch bereits im Jahr 1866 hatte Reinhold Dezeimeris eine andere Erklärung vorgetragen. Gournay, so behauptete er, habe als Herausgeberin exzellente Arbeit geleistet, allerdings mit einer anderen Vorlage. Es dauerte eine Weile, bis diese These in die Köpfe einsickerte. Doch dann fand sie immer mehr Anhänger, die im Detail zu erklären suchten, wie dies vor sich gegangen sein konnte.
Vielleicht hatte Montaigne ein paar Jahre lang mit dem Bordeaux-Exemplar gearbeitet, bis die Seiten so dicht mit Anmerkungen gefüllt waren, dass kein Platz mehr blieb und er in einem sauberen Exemplar weiterschrieb. Dieser annotierte Band existierte zwar nicht mehr, wurde der Einfachheit halber jetzt aber als das «Exemplar» bezeichnet. Darin trug er weitere, vor allem geringfügige Änderungen ein, denn er war inzwischen fast am Ende seines Lebens angelangt. Nach seinem Tod sei dann dieses Handexemplar — und nicht das Bordeaux-Exemplar — an Marie de Gournay geschickt worden, die es edierte und in Druck gab. Das würde erklären, warum der Band nicht mehr existiert: Autorenmanuskripte oder mit Anmerkungen versehene Handexemplare wurden im Zuge der Drucklegung in der Regel vernichtet. Das nicht ausgewertete Bordeaux-Exemplar dagegen blieb erhalten wie ein Kokon, der am Baum hängen bleibt, nachdem die Zikade geschlüpft ist.
Eine These, die sowohl das Überleben des Bordeaux-Exemplars als auch die textlichen Divergenzen plausibel erklärt. Sie passt auch zu dem, was über Marie de Gournays herausgeberische Tätigkeit bekannt ist: Es wäre merkwürdig gewesen, wenn sie bei der Korrektur der Druckfahnen so penibel, bei ihrer eigentlichen editorischen Arbeit aber so nachlässig gewesen wäre. Falls diese These stimmt, wären die Folgen dramatisch, denn dann käme ihre Edition von 1595 und nicht das Bordeaux-Exemplar der endgültigen Version der Essais am nächsten, wie sie Montaigne vorgeschwebt hatte — und damit wären die editorischen Bemühungen großer Teile des 20. Jahrhunderts nur ein irrlichternder Punkt auf dem Radarschirm der Geschichte.
Selbstverständlich versetzte diese Debatte die Montaigne-Forschung in hellen Aufruhr, und es entzündete sich ein hitziger Streit. Einige Herausgeber ruderten zurück und stellten die bisherige Hierarchie auf den Kopf, indem sie die Varianten des Bordeaux-Exemplars in den Anmerkungsapparat verbannten — ein Platz, mit dem sich Marie de Gournays Ausgabe so lange hatte begnügen müssen. So verfährt zum Beispiel die Pléiade-Ausgabe von 2007, herausgegeben von Jean Balsamo, Michel Magnien und Catherine Magnien-Simonin. Andere Wissenschaftler halten weiterhin am Bordeaux-Exemplar als maßgeblich fest, so beispielsweise André Tournon in der von ihm 1998 verantworteten Ausgabe, die frühere Editionen in ihrer mikroskopischen Texttreue übertrifft. Sie gibt Montaignes Zeichensetzung und Markierungen, die zuvor bereinigt oder modernisiert wurden, getreu wieder, gleichsam um die physische Nähe zu Montaignes Handschrift und zu seinen Absichten zu bekunden: als hielte er die noch nasse Feder in der Hand.
Wenn sich der Staub gelegt hat, wird eine für das neue Jahrhundert maßgebliche Ausgabe erscheinen — mit Konsequenzen für alle Montaigne-Leser. Neue Editionen werden dem einen oder dem anderen Text den Vorzug geben und nicht beide heranziehen und amalgamieren, da ja die Bedeutung der Varianten jetzt so genau bemessen werden kann. Falls Gournay «gewinnt», könnte eine Druckseite der Essais sehr viel einfacher aussehen, weil man womöglich darauf verzichten wird, die verschiedenen Textstufen durch die Buchstaben A, B und C zu kennzeichnen. Die Textvarianten sind zwar nach wie vor interessant, aber sie wurden von den Herausgebern eingefügt, die das Bordeaux-Exemplar als Grundlage nahmen und ihre mühevolle Editionstätigkeit auch visuell dokumentiert sehen wollten. Gournay selbst hatte nie an so etwas gedacht, auch Montaigne nicht. Für nichtfranzösische Montaigne-Leser wird eine Neuedition ebenfalls Konsequenzen haben. Es werden Neuübersetzungen notwendig werden, auch englische, da die beiden ausgezeichneten Übersetzungen von Donald Frame und Michael A. Screech, die derzeit auf dem Markt sind, sich an dem Bordeaux-Exemplar orientieren. Wir würden auf den Quellentext zurückgehen, den John Florio, Charles Cotton und die Hazlitt-Dynastie ihren Ausgaben zugrunde legten.
Doch auch das wird nicht das Ende der Geschichte sein. Man wird weiterstreiten, und sei es um die Kommasetzung, schwerlich aber wird man an der Hybris eines Strowski festhalten können, irgendwann werde es eine perfekte, definitive Ausgabe geben. Die Essais werden nie zu einem endgültigen Abschluss kommen. Auch wenn der Mensch Montaigne seine Stiefel an den Nagel gehängt und seine Feder aus der Hand gelegt hat: Solange Leser und Herausgeber über das streiten, was er schrieb, hat der Autor Montaigne nicht den letzten Punkt aufs Papier gesetzt.
Montaigne remixed und embabouyné
Montaigne wusste genau, dass der Autor in dem Augenblick, da sein Buch veröffentlicht ist, die Kontrolle darüber verliert. Andere können damit machen, was sie wollen. Sie können es in einer Form herausbringen oder in einer Weise interpretieren, von der der Autor nie zu träumen gewagt hätte. Selbst ein unveröffentlichtes Manuskript kann außer Kontrolle geraten, wie es im Fall von La Boéties Abhandlung Von der freiwilligen Knechtschaft geschah.
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