Am meisten hasste Montaigne die juristischen Kommentare und die Sekundärliteratur allgemein.
Es macht einem mehr zu schaffen, die Interpretationen zu interpretieren, als die Sachen, und es gibt mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen Gegenstand sonst. Wir tun nichts anderes, als uns gegenseitig zu glossieren.
Rabelais hatte sich über den Wust von Dokumenten lustig gemacht, die sich um jeden Fall auftürmten. Sein Richter Reitgans in Gargantua und Pantagruel studierte stundenlang Akten und wog bedächtig ab, bevor er schließlich durch Würfeln eine Entscheidung traf — eine Methode, die auch nicht schlechter war als andere. Viele Autoren kritisierten zudem die unter Juristen weit verbreitete Bestechlichkeit. Die Justiz galt generell als so ungerecht, dass Montaigne klagte, das einfache Volk ginge ihr aus dem Weg, statt sein Recht zu suchen. Er erzählte die Geschichte einiger Bauern, die einen Mann blutüberströmt in einem Waldstück fanden. Der Mann flehte sie an, ihm Wasser zu geben und ihm beizustehen, aber die Bauern liefen davon aus Angst, für den Überfall verantwortlich gemacht zu werden. Montaigne hatte die Aufgabe, mit ihnen zu sprechen. «Was sollte ich ihnen sagen?», schrieb er. Sie hatten zu Recht Angst. In einem anderen von Montaigne erwähnten Fall gestanden Mörder einen Mord, für den bereits andere verurteilt worden waren und kurz vor der Hinrichtung standen. Die Hinrichtung jedoch wurde nicht aufgeschoben. Das Gericht entschied, die Männer hinzurichten, um für die Annullierung von Urteilen keinen Präzedenzfall zu schaffen.
Montaigne war nicht der Einzige, der im 16. Jahrhundert eine Rechtsreform forderte. Viel von seiner Kritik ist ein Widerhall dessen, was sein Zeitgenosse, der aufgeklärte Kanzler Frankreichs, Michel de L’Hôpital, in einer Kampagne anprangerte, die zu spürbaren Verbesserungen führte. Andere Argumente Montaignes waren origineller und weitsichtiger. Das größte Problem der Rechtsprechung sei, dass sie eine Grundtatsache außer Acht lasse: die Fehlbarkeit des Menschen. Es werde ein endgültiges Urteil erwartet, aber oft sei es unmöglich, zu einem Urteil zu kommen, das Hand und Fuß hatte, denn die Beweislage war mangelhaft oder inadäquat, und die Richter machten Fehler. Kein Richter könne ehrlicherweise davon ausgehen, dass alle seine Entscheidungen unanfechtbar waren. Sie folgten oft mehr seinen Neigungen als der Beweislage, und nicht selten spielte es für die Entscheidungsfindung eine Rolle, ob die Richter ihr Mittagessen gut verdaut hatten oder nicht. Das sei ganz natürlich und unvermeidlich, aber ein kluger Richter müsse sich zumindest seiner Fehlbarkeit bewusst sein. Er könne lernen, seine ersten Impulse noch einmal zu überdenken und sorgfältiger zu urteilen. Das einzig Gute an der Rechtsprechung sei, dass sie die Fehlbarkeit des Menschen offenkundig mache: eine gute philosophische Lektion.
Wenn die Juristen nicht unfehlbar waren, dann ebenso wenig die Gesetze, die sie formulierten. Auch das war eine Tatsache, die man anerkennen und hinnehmen musste. Der zweifelnde, kritisch distanzierte Blick auf sich selbst und das Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit sind ein Kennzeichen von Montaignes Denken allgemein. Es ist wohl nicht zu weit hergeholt, den Grundimpuls dieses Denkstils auch in seinen frühen Erfahrungen in Bordeaux zu suchen.
Wenn Montaigne nicht im Gericht war, widmete er sich einem anderen Bereich, der gleichfalls die Beschränktheit und Unzuverlässigkeit menschlichen Handelns verdeutlichte: der Politik. Oft wurde er auf Dienstreise in andere Städte geschickt, mehrmals auch nach Paris, wo er das Parlament und den Königshof aufsuchte. Mitunter war er eine ganze Woche unterwegs. Besonders die Besuche am königlichen Hof lehrten ihn viel über die menschliche Natur.
Der erste Hof, den Montaigne kennenlernte, war der Heinrichs II. Er muss den König persönlich getroffen haben, denn er beklagte sich, dass er «einen Edelmann aus meiner heimatlichen Gascogne nie korrekt anzureden vermochte». Damit ist vermutlich er selbst gemeint, trug er doch immer noch den regional geprägten Namen Eyquem. Heinrich II. war ganz anders als sein brillanter Vater, Franz I., von dem er 1547 den Thron geerbt hatte. Ihm fehlte dessen politischer Weitblick, und er verließ sich auf Ratgeber, unter ihnen seine alternde Mätresse Diane de Poitiers und seine mächtige Gemahlin Katharina von Medici. Die Schwäche Heinrichs II. war mitverantwortlich dafür, dass Frankreich in eine politisch so schwierige Situation geraten war. Rivalisierende Gruppen witterten die Chance, an die Macht zu kommen, und entfachten einen Kampf, der das Land jahrzehntelang lähmte. Es war ein Machtkampf zwischen den Familien Guise, Montmorency und Bourbon. Ihre persönlichen Ambitionen vermischten sich auf unheilvolle Weise mit den konfessionellen Spannungen, die sich in Frankreich wie in ganz Europa immer mehr zuspitzten.
In religiösen Fragen war Heinrich II. repressiver als Franz I., der erst nach einem aggressiven protestantischen Propagandafeldzug im Jahr 1534 hart gegen die Häresie vorging. Johannes Calvin, der Wortführer der französischen Reformierten, floh nach Genf und errichtete dort im Exil eine Art revolutionäres Hauptquartier. Der Calvinismus und nicht das weit weniger fanatische Luthertum der Frühreformation wurde nun zur protestantischen Hauptströmung in Frankreich. Er stellte für die Autorität des Königs und der katholischen Kirche eine ernste Bedrohung dar.
Der Calvinismus ist heute in Frankreich zwar die Religion einer Minderheit, aber er besitzt nach wie vor großen Einfluss. Als Ausgangspunkt dient ihm die Grundüberzeugung von der völligen Verderbtheit des Menschen, der ganz von der Gnade Gottes abhängig ist. Die Erlösung erfolgt ohne Zutun des Menschen, und sogar seine Entscheidung, zum Calvinismus überzutreten, ist nicht frei. Es gibt kaum eine persönliche Verantwortung, alles ist vorherbestimmt, ein Kompromiss nicht möglich. Einem solchen Gott kann man sich nur bedingungslos unterwerfen. Im Gegenzug gibt Gott denen, die er erwählt hat, unbezwingbare Stärke. Das bedeutet jedoch nicht, dass man sich untätig zurücklehnen kann. Während die Lutheraner sich aus den weltlichen Angelegenheiten heraushielten und versuchten, nach ihrem Gewissen zu leben, waren die Calvinisten aufgefordert, sich in die Politik einzumischen und mitzuhelfen, dass sich Gottes Wille auf Erden erfülle. Im 16. Jahrhundert wurden die Calvinisten in der Genfer Akademie ausgebildet und dann mit Argumenten und verbotenen Schriften bewaffnet nach Frankreich geschickt, um die Menschen zu bekehren und den Staat zu destabilisieren. Seit den 1550er Jahren bezeichnete man die französischen Protestanten als Hugenotten. Der Name leitet sich wahrscheinlich von einem frühen Zweig der Reformierten im Exil ab. Er ist eine Verballhornung von «Eidgenossen» und wurde von den französischen Protestanten und ihren Gegnern gleichermaßen benutzt.
Anfangs reagierte die katholische Kirche auf die protestantische Bedrohung mit inneren Reformen. Als Montaigne aufwuchs, standen die Gewissenserforschung und die Selbstbefragung der Kirche im Zentrum — Anliegen, denen sich religiöse Institutionen in der Regel nicht mit sehr viel Eifer widmen. Gleichzeitig erstarkten jedoch militantere Kräfte. Auch der 1534 von Ignatius von Loyola gegründete Jesuitenorden widmete sich dem ideologischen Kampf. Eine noch fanatischere, allerdings weniger intellektuelle Bewegung, die in Frankreich in den 1550er Jahren als eher lose Gruppe entstand, war die katholische Liga. Deren Mitstreitern ging es nicht um das Übertrumpfen der Häretiker durch schlagkräftige Argumente, sondern um deren Auslöschung mittels brutaler Gewalt. Sie und ihr calvinistisches Pendant standen einander kompromisslos und in fanatischem Glaubenseifer gegenüber. Die Liga stellte sich gegen jeden französischen König, der dem Protestantismus auch nur ein Minimum an Toleranz entgegenbrachte. Diese Opposition wurde im Laufe der Jahrzehnte immer stärker.
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