Für die lange Zeitspanne bis 1557 ist ungewiss, womit genau er sich beschäftigte. Vielleicht kehrte er auf das väterliche Anwesen zurück, vielleicht besuchte er aber auch eine Akademie, wo junge Adlige den letzten Schliff im Reiten, Fechten, Jagen, in Wappenkunde, Gesang und Tanz erhielten. (Montaigne scheint sich nur für den Reitunterricht interessiert zu haben, der einzigen Disziplin, die er, wie er später behauptete, beherrschte.) Irgendwann muss er auch Rechtswissenschaften studiert haben. Als er ins Erwachsenenalter eintrat, war er jedenfalls mit allem gerüstet, um ein erfolgreicher seigneur zu werden. Er hatte in der Schule sämtliche dafür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten erworben. Hierzu gehörte auch etwas, was seinen Vater gefreut hätte: die Liebe zu Büchern und die Entdeckung der Welten, die sie ihm eröffneten — Welten, die die Weinberge von Guyenne und die Langeweile des Alltags einer Schule im 16. Jahrhundert weit hinter sich ließen.
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Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Lies viel, vergiss das meiste wieder, und sei schwer von Begriff!
Lesen
Die intensiven Grammatikstudien, für die Cicero und Horaz herhalten mussten, hätten Montaignes Interesse an der Literatur fast im Keim erstickt. Doch es gab an seiner Schule auch Lehrer, die dem Kind die unterhaltsameren Bücher nicht aus der Hand rissen, wenn sie es bei deren Lektüre ertappten, sondern ihm noch weitere zusteckten — so diskret, dass es sie verschlingen konnte und sich trotzdem weiter als Rebell fühlte.
Eines dieser als unpassend erachteten Bücher, die Montaigne im Alter von sieben, acht Jahren für sich entdeckte und die sein Leben veränderten, waren Ovids Metamorphosen . Die Geschichten über die wundersamen Verwandlungen der antiken Götter und Sterblichen hielten für die Leser im Zeitalter der Renaissance etwas bereit, das späteren Jahrhunderten dann die erschreckenden und erheiternden Märchen der Gebrüder Grimm oder Hans Christian Andersens bieten sollten. Jedenfalls waren sie ganz anders als das, was im Unterricht behandelt wurde. Ein phantasiebegabter Junge des 16. Jahrhunderts konnte die Metamorphosen mit großen, staunenden Augen lesen und sich von ihnen in ihren Bann schlagen lassen.
Bei Ovid verwandeln sich die Menschen in Bäume, Tiere, Gestirne, Gewässer oder auch in körperlose Stimmen. Sie ändern ihr Geschlecht oder werden zu Werwölfen. Eine Frau namens Scylla taucht in einen giftigen Teich ein und beobachtet, wie sich ihre Gliedmaßen in hundeähnliche Ungeheuer verwandeln, denen sie sich nicht entziehen kann, weil diese Ungeheuer mit ihr identisch sind. Der Jäger Aktaion verwandelt sich in einen Hirsch und wird von seinen eigenen Hunden gejagt. Ikarus fliegt so hoch, dass er von der Sonne verbrannt wird. Ein König und eine Königin verwandeln sich in Berge. Die Nymphe Samacis stürzt sich in den Teich, in dem der schöne Hermaphroditus badet, und umschlingt ihn wie ein Tintenfisch seine Beute, bis ihr Körper mit seinem verschmilzt und sie eins werden, halb Mann, halb Frau. Nachdem Montaigne einmal Geschmack an dieser Art Geschichten gefunden hatte, verschlang er weitere Bücher ähnlichen Inhalts: Vergils Aeneis , Terenz, Plautus und neuere italienische Komödien. Für ihn wurde das Lesen jetzt zu einem aufregenden Abenteuer — und zum einzig Positiven, das ihm die Schule zu bieten hatte. «Es blieb halt eine Lehranstalt», meinte Montaigne.
Viele seiner frühen Entdeckungen begleiteten ihn durch sein ganzes Leben. Die Begeisterung für Ovids Metamorphosen ließ zwar später nach, trotzdem sind die Essais voll mit Geschichten daraus, und Montaigne imitierte Ovids Stil, unvermittelt und scheinbar willkürlich von einem Thema zum anderen zu springen. Auch Vergil zählte zu seinen Lieblingsschriftstellern, obwohl der reife Montaigne dreist genug war zu behaupten, über einige Passagen der Aeneis hätte der Autor «noch einmal mit dem Kamm» gehen können.
Doch noch mehr als dafür, was sich Menschen vorstellten, interessierte sich Montaigne für die Handlungen realer Menschen. Und deshalb verlagerte sich sein Interesse bald von den Dichtern zu den Geschichtsschreibern und Biographen. In Geschichten aus dem wirklichen Leben trete der Mensch «mit all der Vielfalt seiner wahren Wesenszüge im Großen und im Kleinen» in Erscheinung, mit «all seinen mannigfachen Umgangsformen und all den Misslichkeiten, die ihn bedrohn», schrieb er. Unter den Geschichtsschreibern schätzte er besonders Tacitus, dessen Historien er in einem Zug las. Er kenne keinen Autor, bekannte er, der «einer öffentlichen Chronik so viele Betrachtungen über individuelle Verhaltensweisen und Neigungen beimischte» wie Tacitus, der, so Montaigne, in einer ebenso merkwürdigen und extremen Epoche gelebt habe wie er selbst. «Oft meint man geradezu, wir seien es, die er beschreibt und brandmarkt.»
Unter den Biographen schätzte Montaigne besonders jene, die über die Beschreibung äußerer Ereignisse hinausgingen und versuchten, die innere Welt eines Menschen zu rekonstruieren. In Montaignes Augen konnte das keiner besser als Plutarch, der um 46 bis 120 n. Chr. lebte und in seinen Vitae das Leben großer Griechen und Römer nachzeichnete. Für Montaigne war Plutarch das, was er selbst für viele Leser wurde: ein Vorbild, dem man nacheifern konnte, und eine Fundgrube an Gedanken, Zitaten und Geschichten. «Er ist in allem derart bewandert, dass er sich bei jeder Gelegenheit, man mag eine noch so ausgefallne Sache aufgreifen, sogleich erbietet, aus seinem unerschöpflichen Vorrat mit freigebiger Hand Verschönerungen und Reichtümer beizusteuern.» Tatsächlich flossen in die Essais nahezu unverändert ganze Abschnitte aus Texten Plutarchs ein. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, hier von einem Plagiat zu sprechen. Ausführliche Zitate großer Autoren waren gängige Praxis. Außerdem stellte Montaigne seine Funde in einen neuen Zusammenhang und verwischte die Konturen.
Ihm gefiel die Art und Weise, wie Plutarch Bilder, Gespräche, Menschen, Tiere und Gegenstände aller Art zu einem großen Ganzen zusammenfügte, statt abstrakte Argumente aneinanderzureihen. Er schreibe, meint Montaigne, handfest und konkret: «Plutarch ist voller Sachlichkeit.» Wenn Plutarch sagen möchte, es komme im Leben darauf an, aus jeder Situation das Beste zu machen, erzählt er von einem Jungen, der nach einem Hund werfen will und stattdessen seine Stiefmutter trifft. «So war es ja auch nicht übel!», sagt er. Wenn er uns darauf hinweisen will, dass wir die guten Dinge des Lebens leicht vergessen und auf die schlechten fixiert bleiben, schreibt er: «Wie die Fliegen über die glatten Stellen eines Spiegels dahingleiten, bei Unebenheiten und Rauheiten aber sich aufhalten, so gleiten auch die Menschen über heitere, fröhliche Tage dahin und verweilen nur in der Erinnerung an die Unannehmlichkeiten.» Plutarchs Geschichten sind nicht wohlgerundet, vielmehr sät er eine Saat, aus der ganz neue Welten hervorgehen und erkundet werden können. Er zeigt Wege auf, die wir beschreiten können, und es liegt an uns, ob wir ihnen folgen wollen.
Montaignes Wertschätzung galt auch der Tatsache, dass Plutarchs Persönlichkeit in seinem Werk deutlich zum Ausdruck kommt: «Ich glaube, ihn so bis ins Innerste kennengelernt zu haben.» Das war es, wonach Montaigne in einem Buch suchte — und es ist dasselbe, was die Leser später bei ihm suchten: das Gefühl, über die Kluft der Jahrhunderte hinweg einem realen Menschen zu begegnen. Wenn Montaigne Plutarch las, verschwand der zeitliche Abstand, der ihn von dem griechischen Biographen trennte (und der viel größer war als der zwischen Montaigne und uns heutigen Lesern). Es sei unerheblich, schrieb er, ob jemand, den man liebt, seit 1500 Jahren oder — wie damals sein Vater — seit achtzehn Jahren tot war. Beide seien gleich weit entfernt, beide gleich nah.
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