Sie nickte. Er hat neuen Lebensmut, dachte sie glücklich. Ich habe ihn ihm gebracht. Und eigentlich ist alles so, wie es früher war in all den Jahren: Ein kleiner Junge liegt krank im Bett, und die Mutter hält seine Hände und erzählt ihm ein Märchen, bis er glücklich einschläft.
«Es geht uns eigentlich gut«, sagte Frau Schwabe und streichelte Erichs Hände.»Seitdem das Haus zerbombt ist und wir im Keller leben, fühlen wir uns sicher.«
Und sie erzählte und erzählte und sah an den Augen ihres Sohnes, wie tief sein Glück war und wie stark das neue Leben in ihm emporwuchs.
Ursula Schwabe saß noch immer in der Wachstube. Ab und zu blickte sie auf die Uhr an der Wand und preßte die feuchten Hände zusammen. Der Unteroffizier bedauerte sie im stillen und musterte verstohlen ihre Beine in den hellen Seidenstrümpfen. Ein gutgewachsenes Püppchen, dachte er. Alles dran, wovon der Landser träumen kann. Aber nur träumen… verdammt noch mal. Da sitzt sie nun, das Zuckerpersönchen, und weiß nicht, daß ihr Mann wie ein Wesen vom anderen Stern aussieht, 's schade um das Mädchen… und dabei ist's genau die Kragenweite, die man immerfort trösten könnte.
Nach einer Stunde stand Ursula Schwabe auf.»Muß ich hier immer sitzen bleiben?«fragte sie.
«Natürlich nicht!«Der Unteroffizier rückte seinen Uniformrock gerade.»Sie können es sich auch auf meinem Bett bequem machen.«
«Was Besseres fällt Ihnen nicht ein?«
«Das schon. Aber dazu kennen wir uns zu kurz. «Der Unteroffizier grinste breit. Ursula schob die Unterlippe vor und zuckte mit den Schultern.
«Dumm reden könnt ihr alle! Darf ich Spazierengehen?«
«Außerhalb des Lazarettes, natürlich! Aber warum wollen Sie denn gehen? Ich habe mich so an Ihren Anblick gewöhnt, daß ich sogar heute nacht davon träumen werde.«
«Eben darum. «Ursula Schwabe knöpfte ihren Mantel zu und band ein Kopftuch um die langen, blonden Haare.»Wenn meine Schwiegermutter zurückkommt, ich bin gleich wieder da. Ich gehe nur etwas an die frische Luft.«
Der Wachunteroffizier sah ihr durch das Fenster nach, wie sie schlank und hochbeinig durch das große Tor hinüber zu dem Wäldchen trippelte.
«Jetzt dienstfrei haben«, sagte er und leckte sich über die Lippen.»Kreuzdonnerwetter — das wär' 'ne Nahkampfspange wert.«
Ursula folgte dem Pfad entlang der großen Mauer, die Schloß und Park umgab und an die das Wäldchen grenzte. Es war ein schmaler Weg, der durch einen lichten Wald führte, durch verfilztes Unterholz und mit Farnen bestandene Schneisen. Alles sah verlassen und wie vergessen aus, so, als sei Ursula Schwabe seit langem wieder der erste Mensch, der über diesen schmalen Pfad an der Schloßmauer entlang ging.
Der Pfad führte bergan zu einem Hügel hinauf, von dem aus man einen schönen Blick über das Städtchen und auf einige ferne Weinhänge hatte, auf einen schmalen Fluß, der sich durch die Niederungen und um die Fachwerkhäuser schlängelte, und auf einen hohen Schornstein, der wie ein großer, roter Pfahl in den Himmel stach.
Ursula blieb stehen und schaute über das Land. Sie kam sich einsam wie nie vor, ausgestoßen und vergessen, in eine Welt hineingesetzt, in der sie umherirren würde, weggerissen von aller Liebe und aller Hoffnung, für die sie bisher gelebt hatte. Jetzt sprach Erich schon über eine Stunde mit seiner Mutter, und sie saß draußen wie ein abgestellter Schirm, so, als gehöre sie nicht mehr zu ihm. Es war ein Gefühl, das ihr Herz wie in einer Presse zusammendrückte. Vielleicht will er mich doch noch sehen, sagte sie sich in solchem Augenblick der inneren Qual und bereute, daß sie fortgegangen war. Mutter hat ja gesagt, daß sie ihn dazu bringen will, mich zu rufen.
Hinter sich hörte sie plötzlich Marschschritte und ein paar Kommandos.»Links — rechts, links — rechts. Himmel noch mal, habt ihr denn alles verlernt? Ihr wackelt daher wie eierlegende Enten! Auf
Vordermann achten.«
Sie drehte sich um. Von dem Hügel herunter konnte sie über die Schloßmauer in den Park sehen. Eine Gruppe Verwundeter kehrte vom Sportplatz zurück. Es war der Schlafsaal 1 von Block B, der zum Kaffeetrinken einrückte. Ein junger Leutnant marschierte vorweg. Es waren Gesichtsverletzte, die zehn und mehr Operationen hinter sich hatten und mit überpflanzten Hautlappen und Rundstiellappen aussahen wie eine buntgeflickte Schürze.
Ursula Schwabe kletterte vorsichtig den kleinen Hang hinab zur Mauer, bis sie hinter einem Busch stand, der sie vor den Blicken der Marschierenden verbarg. An einen dünnen Baumstamm geklammert, konnte sie eben noch über die Mauer schauen und den Weg sehen, über den die Kolonne der Gesichtsverletzten im Gleichschritt heranzog.
Der Marschtritt kam näher, sie hörte Lachen und merkwürdige, kehlige Laute.
Und dann sah Ursula sie… vierundzwanzig Gesichtsverletzte… ganz deutlich sah sie sie… auf sie zumarschieren, sie… eine geballte Masse gesichtsloser Wesen.
Ursula Schwabe riß den Mund auf und krallte die Nägel in den Stamm des Baumes. Mit beiden Armen umschlang sie ihn, und sie merkte nicht, wie die Haut über ihrer Stirn aufplatzte und das Blut über ihr Gesicht lief, als sie mit dem Kopf gegen die rauhe Rinde schlug.
Nein!«jammerte Ursula Schwabe.»Nein… nein. «Der Wald, der Hügel, das Schloß, der Park drehten sich vor ihren Augen, lösten sich auf in schwarze und rote Punkte, die vor ihr tanzten, ineinanderflossen und dann zerplatzten. Sie umklammerte den rauhen Stamm und hielt sich an ihm fest und fühlte, wie sie nach unten sank, wie ihre Hände, ihr Gesicht an der Rinde entlangglitten und blutig aufrissen.
Erst als sie auf den Knien lag und die Kälte durch ihren Körper schnitt, wurde es klarer um sie. Mit einem Schrei sprang sie auf und rannte den schmalen Weg zurück zum Wachhaus, an der hier wieder hohen, unüberblickbaren Mauer entlang, hinter der sie noch immer, sich langsam entfernend, den kehligen Gesang der Verstümmelten hörte.
Der Wachunteroffizier hatte einen Augenblick den Drang, laut» Sa-nitäääter!«zu brüllen, als Ursula Schwabe in den Raum stürzte. Dann erinnerte er sich, daß man ja hier in einem Lazarett und nicht an der Front war, und sprang herbei, riß sein Taschentuch aus dem Rock, drückte es auf das blutende Gesicht Ursulas und führte sie zu einem der Feldbetten.
«Was ist denn los?«rief er und griff nach dem Telefon. Er drehte die Nummer Dr. Lisa Mainettis und starrte auf Ursula, während das Rufzeichen hinausging.»Wo kommen Sie denn her? Wer hat Sie denn so zugerichtet? Hat irgend so ein Sauhund Sie vielleicht. «Der Unteroffizier schluckte.»Die haben monatelang keine Frau gesehen, außer den Haubengeschwadern. Die sind wie… wie. «Ihm fiel kein Vergleich ein, und er war froh, als die Stimme Dr. Mainettis aus der Hörmuschel klang.
«Frau Doktor!«sagte er stramm.»Frau Schwabe — sie ist eben zurückgekommen. Ich weiß nicht, was passiert ist. Sie blutet im Gesicht und an den Händen, und sie weint. Ich nehme an, daß jemand draußen versucht hat. Nein, gesehen hat es keiner. Gut, ich halte sie hier fest. Jawoll. Ende.«
Er legte den Hörer zurück und setzte sich unsicher auf die Tischkante. Eine Sauerei, dachte er ergrimmt. Will ihren Mann besuchen. und dann so was! Und man kann gar nichts sagen. Wie soll man da trösten? Soll man sagen: Frauchen, wer Hunger hat, der frißt sogar Gras. Zu dumm ist das! Und Hunger hat man selbst, wenn man sie so ansieht. blond, jung, schlank, mit langen Beinen und einer wohlgefüllten Bluse. Das erinnert einen an so manches, und dann ist's wie ein Fieber durch den Körper.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Dr. Mainetti stieß die Tür zur Wachstube auf und trat ein. Sie warf einen Blick auf die auf dem Feldbett liegende, blutbeschmierte und haltlos weinende Ursula und winkte dem Unteroffizier zu.
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