Was auch half, waren die Regeln des Erinnerns, die ihm inzwischen geläufiger waren: die Regel der Drei, die Oben-nach-unten- und die Unten-nach-oben-Regel, die Helfer und ihre Pflichten und derlei mehr. Es fiel ihm noch immer schwer, und selbst wenn er sich eine Geschichte eingeprägt hatte, stellte er einen halben Monat später oft fest, dass sie wieder aus seinem Kopf verschwunden war. Und weil ihm inzwischen daran gelegen war, Dorn eine Freude zu bereiten, frustrierten ihn solche Verluste mehr denn je. Das Herz wurde ihm ein wenig schwer, als er begriff, dass er nun, da er zurück und gerettet war, diese Geschichten würde lernen müssen, selbst wenn er nie besonders gut darin sein würde, sie zu erzählen. Bis jetzt hatte er nie daran geglaubt, eines Tages tun zu müssen, was man als Mann tun musste.
Doch vor allem war er froh. Er beobachtete Elga, die wie ein Nerz aß und zusehends wieder Fleisch auf die Knochen bekam, und konnte kaum glauben, dass sie bei ihnen war. Es kam ihm wie ein Traum vor, und manchmal hatte er Angst, dass er eines Morgens, wenn das Sonnenlicht den Nebel in der Schlucht gelb färbte, in einer Welt erwachen würde, in der die Dinge anders gekommen waren. Es verblüffte ihn immer wieder, dass sie Elga tatsächlich zurückbekommen hatten; das würde er nie ganz hinter sich lassen, er würde immer ein wenig verblüfft sein. Auf keinen Fall sollte ihr je wieder etwas zustoßen.
Heide war sichtlich erfreut über ihre Rückkehr. — Es war langweilig, ohne den plappernden alten Unaussprechlichen mit seinen Karbunkeleien. Die meisten Männer in diesem Rudel sind Trottel, und die Frauen tragen gerade etwas aus, deshalb gab es niemanden mehr, mit dem man reden konnte. Außerdem braucht ein Rudel wohl seinen Schamanen, selbst wenn er eine kleine Schlange ist.
Sie musterte Eistaucher eingehend. — Ich bin froh, dich zu sehen, Eistaucher. Aber lass dir eines gesagt sein: Du musst dich um diesen schlimmen Knöchel kümmern, sonst wirst du dein Leben lang humpeln. Noch bist du ein junger Mann, kaum mehr als ein Kind. Sicher willst du nicht zwanzig Jahre lang lahm sein. Man braucht beide Beine, um in der Welt zurechtzukommen!
— Das weiß ich, sagte Eistaucher besorgt. — Das kannst du mir glauben.
— Warum läufst du dann immer noch damit herum?
Eistaucher war überrascht. — Weil ich helfen muss! Ich kann doch nicht nur rumsitzen und mich wie ein Kleinkind füttern lassen. Ich kann vielleicht nicht jagen gehen, aber wenigstens kann ich noch Feuerholz sammeln.
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da schüttelte sie den Kopf. — Wir sind bestens zurechtgekommen, bevor du wieder da warst. Wir brauchen dich nicht. Hör mir zu! Wenn du dich nicht einen Mondlauf lang hinsetzt und dein Bein ausruhst, wirst du nie wieder jagen können. Und wir brauchen dich als Jäger. Im Lager kommen wir auch eine Weile ohne dich aus. Alle werden es verstehen. Selbst Steinbock wird es verstehen. Und wenn nicht, sorge ich dafür, dass er es versteht. Bei den letzten Worten klang sie so bedrohlich, dass Eistaucher ein Schauer über den Rücken lief.
Der Blick, mit dem sie ihn festnagelte, war keinen Deut sanfter. — Also, tust du, was ich sage, oder nicht?
— Ich werde es versuchen.
Von da an saß Eistaucher selbst am Tag, während alle anderen unterwegs waren, im Lager herum. Er kümmerte sich mit um Glückskind und die anderen Kinder, schlug Klingen von Blöcken ab, gerbte Felle und schnitt und nähte neue Jacken und Beinlinge für Elga. Gut genug nähen konnte er dafür zwar, aber einige Frauen fertigten Kleider an, die so viel besser waren als seine, dass er schließlich aufgab und stattdessen anfing, aus Stöcken kleine Figuren zu schnitzen und Erdblut zu Pulver zu zermahlen sowie die Geschichten aufzusagen, die er lernte. Was er auch tat, Heide wollte ihn nicht aufstehen lassen. Jeden Abend und oftmals auch tagsüber erhitzte sie Wasser, indem sie Steine vom Feuer in einen Eimer legte, goss das heiße Wasser dann in Blasen und legte sie über Schlimmbeins Knöchel. Sie probierte auch einige ihrer Salben an ihm aus, schüttelte aber zweifelnd den Kopf, wenn sie sein Bein nach einer solchen Behandlung untersuchte. Offenbar hielt sie die Wasserblasen für das beste Heilmittel, und auch Eistaucher fand, dass sie sich gut anfühlten. Anschließend hielt sie immer seinen Fuß in den Händen und drückte behutsam auf die Haut über dem geschwollenen Knöchel, um festzustellen, wo es wehtat, und rieb sie, um die Heilung zu beschleunigen.
— Das solltest du auch machen, sagte sie zu ihm. — Du spürst es besser. Wenn ein Band oder eine Sehne reißt, dann heilt die Verletzung manchmal einfach nicht. Aber manchmal heilt sie auch doch. Die Leute genesen sehr viel öfter von solchen Rissen und Brüchen, als man meinen sollte. Du musst also das Beste hoffen und dir sagen, dass es schon klappen wird. Du kannst dich wieder davon erholen. Zumindest solltest du dich früher oder später wieder schmerzfrei bewegen können.
— Das wäre gut.
Tatsächlich tat es nicht mehr so weh wie auf ihrem Marsch. Aber manchmal, wenn er Schlimmbein versehentlich bewegte oder ein wenig aus dem Gleichgewicht geriet, schoss nach wie vor der kleine, reibende Schmerz durch sein Bein. Heide sah es ihm an, und sie sah auch, dass er nicht mehr lange würde herumsitzen können. Fast einen Monat lang tat er das nun schon, und bald würden sie sich auf die Reise nach Norden vorbereiten. Er musste aufstehen und einen Versuch wagen. Also erklärte sie eines Morgens, dass sie ihm einen Heilschuh anfertigen würde.
— Was meinst du damit?
— Das zeige ich dir.
Sie setzte sich mit ihm zusammen in die Sonne, einen Vorrat von Stöcken, Geweihen, Stoßzahnstücken, Lederbändern und Zedernrindenkordel bei der Hand, und sie verbrachten den ganzen Morgen damit, ein Holzgestell anzufertigen, das ein bisschen an einen Stiefel erinnerte, mit Lederbändern, mit denen Heide es an seinem Fuß, seinem Knöchel und seinem Unterschenkel befestigen konnte. Mit diesem Gestell, das bis zu seinem Knie hochging, konnte er gehen, indem er das ganze Gerät vorschwang und bei jedem Schritt mit der Unterseite aufsetzte. Dadurch humpelte er ziemlich, aber wie er auch auftrat und was er auch tat, der linke Fuß und Knöchel wurden genau in Position gehalten. Heide erklärte, dass der Bruch dadurch Zeit zum Heilen bekommen würde. Und es stimmte, dass er, wenn er das Gestell trug, nie das Knacken spürte, nicht einmal beim Gehen.
Also konnte er nun beim Feuerholzsammeln helfen und andere gemächliche Aufgaben im Lager übernehmen. Nachdem er den Holzstiefel bis in den siebten Monat hinein verwendet und nachts weiter Blasen mit heißem Wasser auf den Knöchel gelegt hatte, spürte er kaum noch Schmerzen, und auch die Schwellung war sichtbar zurückgegangen. Er war langsam, und seine Bewegungen waren, wie Falke es ausdrückte, hässlich anzuschauen, aber schließlich kam der Tag, an dem er den Stiefel nicht mehr brauchte, barfuß gehen konnte und dabei keine Schmerzen im Knöchel hatte. Er spürte eine gewisse Steifheit und Schwäche im Vergleich zu Gutbein, aber keinen Schmerz. Das verblüffte Eistaucher; er hatte nicht damit gerechnet, hatte nicht gewagt, darauf zu hoffen. Heide hatte ihn geheilt!
Sie schüttelte den Kopf, als er das zu ihr sagte: — Nein, nein. Dein Körper hat sich selbst geheilt. Aber ich weiß, was du damit sagen willst. Wenn man verletzt ist, fällt es einem sehr schwer, daran zu glauben, dass der Körper sich selbst heilen kann. Meistens scheint es genau andersherum zu sein. Wir zerfallen in unsere Einzelteile und sterben, so ist der Lauf der Welt. Aber manchmal heilt etwas. Ich habe das zu oft beobachtet, um noch daran zu zweifeln, das eine oder andere Mal sogar bei mir selbst. Nein, Heilung gibt es wirklich. Aber warum kommt sie das eine Mal zu uns und das andere Mal nicht?
Mit düsterer Miene schüttelte sie den Kopf. — Das weiß niemand. Eigentlich wissen wir überhaupt nichts. Nichts außer dem, was uns Rabe auf den Kopf scheißt, wir wissen nur, was uns aus dem Arsch der Welt überliefert ist. Aber was die Welt da oben im Schilde führt, warum wir genau diese Scheiße bekommen und keine andere, kann niemand sagen.
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