Wolken tauchten am Himmel auf, als die Sonne unterging, nach innen gekrümmt wie Farnspitzen, das Weiß rosa verfärbt vor dem blauen Pulsieren des Himmels. Als das Sonnenlicht erlosch, stand der Mond bereits groß und leicht gerötet im Osten. Auf der linken Seite war er etwas blasser als auf der rechten, oder zumindest hatte Eistaucher diesen Eindruck. Das machte ihm Sorgen: Es war schon vorgekommen, dass Jungen eine Nacht zu früh von ihrer Jägerwanderschaft zurückgekehrt waren, wodurch sie den Eindruck erweckt hatten, schnell wieder nach Hause zu wollen. Man hatte sie ausgelacht. Andererseits war Moos, indem er eine Nacht zu spät heimgekehrt war, übervorsichtig erschienen. Das Problem war, dass nicht jeder Vollmond gleich aussah: Mal war er etwas größer und mal etwas kleiner, und auch sein Schein veränderte sich leicht, sodass der makellose Ring aus hellem Licht, der ihn umgab, manchmal erst um Mitternacht auftauchte, anstatt sich sofort nach Sonnenuntergang zu zeigen. Noch schlimmer war, dass dieser leuchtende Ring manchmal erschien, kurz bevor der Mond sich im Osten erhob. Man konnte sich also vertun, selbst wenn man genau aufpasste.
In dieser Nacht schwoll und schrumpfte der dicke, helle Mond mit jedem Herzschlag, sprang mit jedem Blinzeln, stand aber jederzeit riesig und leuchtend am Himmel. In seinem Licht konnte Eistaucher jede Einzelheit am Grunde des Untertals erkennen, obwohl alles ein mondweiß bestäubtes Grau-in-Grau war. Es lag unter ihm wie ein Geisterschatten der Tagwelt, Mutter Erde in all ihrer Schönheit, und schwebend blickte er hinunter, sah, wie das Mondlicht dort, wo keine Eisdecke war, auf den bloß liegenden, schwarzen Kräuselungen des eisigen Flusses schimmerte. Die Felswände schienen aus sich heraus zu leuchten, und doch waren ihre Schatten kohlschwarz und verliehen der Landschaft ein entschieden gemeißeltes Aussehen, als sei die Große Schlucht mit einer riesigen, scharfen Klinge in die Landschaft gekerbt worden. Ah, das Mondlicht!
Er erreichte einen Punkt auf dem Höhenzug, von dem aus er in die große Schleife hinabschauen konnte, die der Fluss stromabwärts ihres Lagers zog. Sie hatte genau die gleiche Form wie die, in der sich ihr Lager befand, aber in ihr floss noch Wasser, während sich das Flussbett bei ihrem Lager in eine grasbewachsene Senke verwandelt hatte. Eistaucher erkannte, dass ein weiterer Steinbison sich über den Strom spannen würde, sobald das Wasser die stromaufwärts gelegene Biegung durchbrochen hatte, während die Schleife selbst austrocknen und sich ebenfalls in eine Wiese verwandeln würde. Der gekrümmte Lauf, den das eisige Wasser auf dem Weg vom Schatten ins Mondlicht nahm. Es gab leise, nasse Laute von sich, die bis hier oben zu hören waren. Selbst jetzt, wo der Fluss noch größtenteils vereist war, sang er sich selbst etwas vor. Schwarze Spuren zogen sich wie lange, schmale Teiche über die weiß schimmernde Fläche. Manche sahen aus, als lägen sie höher als das Eis, andere waren schwarze Löcher in weißem Hermelin.
Im Schatten unter den Erlen an der Uferkrümmung fiel ihm eine Bewegung ins Auge. Es sah aus wie ein Mensch, aber als es ins weiße Mondlicht trat und sich ans verschneite Flussufer stellte, erkannte Eistaucher, dass es einen Tierkopf hatte, dunkel und rund: riesige Eulenaugen über einer katzenartigen Schnauze, Hörner, gewunden wie die eines Steinbocks … etwas Derartiges hatte Eistaucher noch nie gesehen, und der Anblick ließ ihn leicht schwindeln. Die Augen waren eindeutig Eulenaugen, groß und rund; damit blieb diesem Wesen sicher nichts verborgen. Eistaucher erstarrte, den Rücken an einen Baum gepresst, in der Hoffnung, mit dessen schwarzem Umriss zu verschmelzen. Aber das Ding starrte direkt zu ihm hoch und hielt den Blick weiter auf ihn gerichtet, während es stromaufwärts am Ufer entlangschritt. Es hob den rechten Arm, und er sah, dass es eine Pfote als Hand hatte, eine Katzenpfote; und es hatte einen Löwenkopf, jetzt sah er es, aber mit Eulenaugen und mit Hörnern, die sich um Katzenohren wanden. Die Ohren waren aufgestellt und ihm zugekehrt, sie lauschten seinem Herzen, das ihm bis zum Hals schlug. Dann verschwand das Geschöpf in den Schatten der Felswand.
Unwillkürlich war Eistaucher zurückgewichen, in Richtung des Grats. Das Entsetzen hatte ihm die Kehle durchbohrt wie ein Speer; er konnte kaum atmen, und ihm war am ganzen Leib heiß. Mit einem Mal musste er dringend scheißen, ein Steppentier, das sich für die Flucht bereit machte. Er kniff die Hinterbacken zusammen und verkrampfte seine Eingeweide.
Dann wandte er sich wimmernd ab und rannte mit leerem Kopf los, blindlings und ohne seine Beine zu spüren. Es war außerordentlich gefährlich, so durch die Nacht zu fliehen, aber ich konnte ihm nicht helfen; in jenem Moment des Entsetzens gab es für mich keine Möglichkeit, in sein Inneres durchzudringen.
Durch Zufall fand er sich erneut auf dem Pfad am Hang wieder. Er hielt inne, weil er einfach nicht mehr konnte. Keuchend blickte er sich um, voller Angst davor, was er vielleicht sehen würde. Und er fürchtete sich zu Recht: Da war der Löwenmensch mit den Eulenaugen wieder, doch nun befand er sich weiter oben auf dem Grat, als habe er Eistaucher im Flug überholt. Mit einem blökenden Schrei drehte Eistaucher sich um und humpelte hangabwärts. Er war noch immer zu Tode erschreckt, aber nun hatte er zu sich zurückgefunden und spürte den Schmerz im linken Bein. Schluchzend rannte er weiter.
Ihm blieb nichts übrig, als dem Pfad zum Aussichtspunkt über der Großen Schlucht bis zu seinem unteren Ende zu folgen. Dabei traf er schließlich auf den Weg, der von der Gewundenen Au aus an der Nordseite des Tals entlang verlief. Den wollte er allerdings nicht nehmen, weil er dort zu gut sichtbar war. Stattdessen ließ er sich in eine kleine Spalte im Fels hinab, die er von früher kannte, einen mit Sträuchern zugewachsenen Riss, durch den er auf Händen und Knien kriechen musste, um unter den tiefsten Ästen hindurchzugelangen. Bald erreichte er einen Sims oberhalb der eigentlichen Felswand, und dort, wo der Sims schmaler wurde und schließlich mit der Wand verschmolz, gab es eine schmale Rampe, über die man sich auf einen weiteren, tiefer gelegenen Sims hinablassen konnte. Er war nicht zum ersten Mal hier.
Am anderen Ende des zweiten Simses erreichte er den Eingang zu einer kleinen Höhle, eine vertikale Kerbe im weißen Gestein. Ja, hier kannte er sich aus. Zum ersten Mal war er mit seinem Vater hier gewesen. Ein Stück weit konnte man durch die Kerbe kriechen, den Rest musste man mit einem Sprung hinab auf eine kleine Plattform zurücklegen. Dahinter war die Höhle unglücklicherweise bodenlos, ein Loch, das sich in der Schwärze verlor. Durch einen Spalt hinter dem Loch rann etwas Wasser hinab.
Sein Vater hatte ihm die Höhle zur Warnung gezeigt: Das Loch darin führte direkt zum Fluss. Das hatte Eistauchers Vater herausgefunden, indem er ein Zeichen in eine Walnuss geritzt und sie in die Finsternis hinabgeworfen hatte. Später hatte er die Walnuss dann unten im Fluss gefunden, wo sie sich in einem kleinen Strudel drehte.
Jetzt saß Eistaucher im Dunkeln hinter einem Felsen auf der Plattform. Von hier aus konnte er die Höhlenöffnung im Blick behalten, durch die er eine Aussicht auf die Südwand der Großen Schlucht hatte, deren Mondweiß von Flechten und weiteren Simsen gebrochen wurde. Am schwarzen Himmel darüber waren nur vereinzelt blasse Sterne zu sehen, überstrahlt vom milchigen Mond. Die Nacht war noch jung.
Hinter und über ihm, auf dem oberen Sims, erklang ein Klappern. Eistaucher, der jetzt zitterte und sich fühlte, als wäre er von einer Biene gestochen worden, kroch an das Loch am Rande der Plattform und griff hinein. Die Wand des Lochs war feucht, aber durchbrochen. Vorsprünge standen heraus, auf denen man Fuß fassen konnte. Es ließ sich unmöglich sagen, was sich sonst noch dort unten befinden mochte. Doch jetzt hörte er ein Schnüffeln vom zweiten Sims, vor der Höhle, also ließ Eistaucher sich mit den Beinen voran in das Loch gleiten und stellte sich mit beiden Füßen auf den Vorsprung, den er ertastet hatte. Er drückte die Zehen an den Fels darunter, tastete ihn sorgfältig ab. Jetzt war Spucke sein bester Kundschafter, weil er nämlich selbst in der Kälte noch empfindlich war. Weiteres Geschnüffel von oben trieb Eistaucher zur Eile an. Er fand einen weiteren Vorsprung, der ihm Halt bot, umklammerte ihn mit aller Kraft und ließ sich weiter in das Loch hinab. Er musste sich die Position all dieser Vorsprünge merken, also schloss er die Augen und malte sich in Gedanken auf, wo sich die beiden befanden, von denen er bisher wusste. Dann ließ er die Zehen des rechten Fußes an der Wand hinabwandern, auf der Suche nach einem weiteren Halt. Er fand einen, jedoch etwas zu weit unten; wenn er sich mit dem rechten Spann daraufstellen wollte, musste er sein linkes Bein so weit beugen, dass sein Knie oberhalb seiner Hüfte wäre. Das war nicht gut, und sein Knöchel tat so weh wie schon lange nicht mehr, aber er beachtete den Schmerz nicht und suchte nach einem tieferen Griff für seine Hand. Wenn er einen weiteren guten Halt fand, dann konnte er den linken Fuß von dem Vorsprung nehmen und sich einen tieferen Punkt suchen, um ihn abzustellen. Blind tastend fand er einen Spalt, einen guten Spalt; wenn er darin die Faust ballte, blieb sie stecken, so fest er auch zog. Das war ein Halt, den er ganz nach Belieben vergrößern oder verkleinern konnte, also ließ er den Fuß tiefer gleiten und suchte mit ihm weiter unten in der Nähe seines anderen Fußes die Wand ab. Schließlich stellte er fest, dass beide Füße bequem auf denselben Vorsprung passten, der ihm nun eher wie ein Felssims vorkam.
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