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Ной Гордон: Der Schamane

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Ной Гордон Der Schamane

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Originaltitel: Shaman Aus dem Amerikanische übersetzt Von Klaus Berr

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Einen Dollar für den Hausbesuch, fünfzig Cent für die Verbände, fünfzig Cent für das Medikament. Aber die Arbeit war noch nicht beendet. Die nächsten Nachbarn der Geachers waren die Reismans, ihr Hof lag zehn Reitminuten entfernt. Shaman fuhr hin und redete mit Tod Reisman und seinem Sohn Dave, die versprachen, auszuhelfen und dafür zu sorgen, dass auf der Geacher-Farm eine Woche lang alles weiterlief.

Shaman ließ sich auf dem Nachhauseweg Zeit und genoss den Frühling. Die schwarze Erde war zum Pflügen noch zu nass. Morgens hatte er gesehen, dass auf den Weiden bereits die ersten Blumen blühten, Veilchen und orange leuchtende Gelbwurz und rosafarbener Präriephlox, in wenigen Wochen würden größere Blüten die Ebenen mit ihrer Farbenpracht überziehen. Vergnügt atmete er den schweren, süßen Duft gedüngter Felder ein.

Als er heimkam, war das Haus leer, und der Eierkorb hing nicht an seinem Haken, was bedeutete, dass seine Mutter im Hühnerstall war. Er ging ihr nicht nach. Bevor er die Arzttasche an ihren Platz neben der Tür zurückstellte, untersuchte er sie, als sähe er sie zum erstenmal. Das Leder war abgenutzt, doch es war solides Rindsleder, das ewig halten würde. Die Instrumente, Verbände und Arzneien lagen darin, wie sein Vater sie eigenhändig eingeordnet hatte, sauber, übersichtlich und so, dass er stets für alles gerüstet war.

Shaman ging ins Arbeitszimmer und fing an, die Habseligkeiten seines Vaters methodisch zu inspizieren. Er wühlte in den Schreibtischschubladen, öffnete die lederne Truhe und teilte alles in drei Gruppen: für seine Mutter all die Kleinigkeiten, die für sie persönlichen Wert haben mochten, für Bigger das halbe Dutzend Pullover, die Sarah Cole aus hauseigener Wolle gestrickt hatte, damit sie den Doktor bei kalten Nachtfahrten warm hielten, dazu die Angel- und Jagdausrüstung des Vaters und einen Schatz, der so neu war, dass Shaman ihn zum erstenmal sah: einen 44er Colt Texas Navy Revolver mit gezogenem Neun-Zoll-Lauf und dunklen Nußbaumgriffschalen. Die Waffe war eine Überraschung und ein Schock. Zwar hatte sein pazifistischer Vater sich am Ende dazu durchgerungen, die Truppen der Union zu behandeln, doch nur unter der deutlich ausgesprochenen Bedingung, dass er als Nichtkämpfer keine Waffe tragen würde. Warum hatte er sich dann diesen offensichtlich teuren Revolver gekauft? Die medizinischen Bücher, das Mikroskop, die Arzttasche und der Vorrat an Kräutern und Medikamenten standen Shaman zu. In der Truhe fand er unter dem Mikroskopkasten eine Sammlung Bücher, broschierte Bände aus gutem Schreibpapier. Als er sie durchsah, erkannte Shaman, dass es sich um das lebenslange Tagebuch seines Vaters handelte.

Der Band, den er willkürlich zur Hand nahm, war 1842 geschrieben. Beim Durchblättern entdeckte Shaman eine reichhaltige, aber wahllose Aneinanderreihung von medizinischen und pharmazeutischen Notizen und intimen Gedanken. Das Buch war übersät mit Skizzen: Gesichter, anatomische Zeichnungen, der Ganzkörper-Akt einer Frau, seiner Mutter, wie er erkannte. Er betrachtete das noch junge Gesicht und starrte fasziniert das nackte Fleisch an, wohl wissend, dass in dem unübersehbar schwangeren Bauch ein Fötus heranwuchs, der er selbst werden sollte. Er schlug einen früheren Band auf, aus der Zeit, als Robert Judson Cole noch ein junger Mann war, der eben erst mit dem Schiff aus Schottland gekommen war. Auch der enthielt einen weiblichen Akt, diesmal mit einem Gesicht, das Shaman nicht kannte. Die Züge waren nur undeutlich, die Vulva jedoch mit klinischer Detailtreue gezeichnet, und Shaman sah sich plötzlich vertieft in den Bericht über eine Affäre, die sein Vater mit einer Frau in seiner Pension gehabt hatte.

Während er las, wurde er immer jünger. Die Jahre fielen von ihm ab, sein Körper entwickelte sich zurück, die Erde drehte sich in Gegenrichtung, und die zerbrechlichen Geheimnisse und Leiden der Jugend erstanden neu. Er war wieder ein Junge, der verbotene Bücher las und nach Worten und Bildern suchte, die ihm alles über die geheimen, niederen und vielleicht unermesslich wunderbaren Dinge verrieten, die Männer mit Frauen anstellten.

Zitternd stand er da und gab acht, ob nicht vielleicht sein Vater zur Tür hereinkäme und ihn hier überraschte.

Erst als er merkte, dass seine Mutter mit den Eiern ins Haus kam, zwang er sich, das Buch zu schließen und in die Truhe zurückzulegen. Beim Abendessen sagte er, er habe angefangen, die Habseligkeiten seines Vaters durchzusehen, und er werde eine leere Kiste vom Dachboden holen, um die Sachen darin zu verstauen, die sein Bruder bekommen solle.

Unausgesprochen stand zwischen ihnen die Frage, ob Alex überhaupt noch lebte, ob er zurückkehren und die Sachen benutzen werde. Doch dann entschloss Sarah sich zu einem Nicken. »Gut«, sagte sie, offensichtlich erleichtert, dass ihr Jüngerer sich an die Arbeit gemacht hatte. In dieser Nacht lag Shaman wach und sagte sich, dass ihn die Lektüre dieser Tagebücher zu einem Voyeur mache, zu einem Eindringling in das Leben seiner Eltern, vielleicht sogar in ihr Schlafzimmer, und dass er die Bücher deshalb verbrennen müsse. Doch sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass sein Vater sie geschrieben hatte, um das Wesentliche aus seinem Leben aufzuzeichnen, und während er grübelnd in dem durchhängenden Bett lag, fragte er sich, wie wohl die Wahrheit über das Leben und den Tod von Makwa-ikwa aussah, und er befürchtete, dass diese Wahrheit ernste Gefahren in sich bergen könne.

Schließlich stand er auf, zündete die Lampe an und schlich sich mit ihr hinunter - leise, um seine Mutter nicht aufzuwecken. Er stutzte den qualmenden Docht und drehte die Flamme so hoch wie möglich. Das Licht reichte noch immer kaum zum Lesen, und das Arbeitszimmer war zu dieser Nachtzeit ungemütlich kalt. Doch Shaman nahm den ersten Band und fing an zu lesen, und im gleichen Augenblick vergaß er die schlechte Beleuchtung und die unangenehme Temperatur, denn nun erfuhr er über seinen Vater und sich selbst mehr, als er je hatte wissen wollen.

Zweiter Teil.Frische Leinwand, neues Gemälde

11. März 1839

Der Einwanderer


Zum erstenmal sah Rob J. Cole die Neue Welt, als an einem nebligen Frühlingstag das Postschiff Cormorant - ein schwerfälliges Schiff mit drei kurzen Masten und einem Besansegel, und dennoch der Stolz der Black Ball Line - von der Flut in einen geräumigen Hafen geschoben wurde und dort seinen Anker in die kabbelige Dünung warf. East Boston war nichts Besonderes und bestand nur aus ein paar Reihen schlecht gebauter Holzhäuser, aber von einem der Piers aus nahm Rob J. für drei Pence eine kleine Dampfschiffähre, die ihn auf verschlungenem Kurs durch eine beeindruckende Ansammlung von Schiffen und Kähnen auf die andere Seite, zum eigentlichen Hafenviertel, brachte, einer wild wuchernden Siedlung aus Wohnbauten und Geschäftshäusern, die beruhigend nach verfaulendem Fisch, Bilgenwasser und geteertem Seil roch wie jeder schottische Hafen auch. Er war hochgewachsen und breit, größer als die meisten. Das Gehen fiel ihm schwer, als er sich auf der krummen Kopfsteinpflasterstraße, die vom Wasser wegführte, in Bewegung setzte, denn die Seereise steckte ihm noch in den Knochen. Auf der linken Schulter trug er einen schweren Schiffskoffer, und unter seinem rechten Arm klemmte, als habe er eine Frau um die Taille gefasst, ein großes Saiteninstrument. Er sog Amerika mit jeder Pore ein. Schmale Straßen, kaum breit genug für Karren und Kutschen, die meisten Gebäude aus Holz oder aus sehr roten Ziegeln, die Geschäfte voller Waren, über den Türen farbenfrohe Schilder mit vergoldeten Buchstaben. Er bemühte sich, die Frauen, die aus den Geschäften kamen, nicht anzustarren, obwohl er wie betrunken war vor Sehnsucht nach dem Geruch einer Frau. Er spähte kurz in ein Hotel, das American House, doch die Lüster und die Perserteppiche schüchterten ihn ein, und er wusste, dass die Preise zu hoch für ihn waren. In einem billigen Lokal aß er eine Tasse Fischsuppe und fragte zwei Kellner, ob sie ihm eine billige, aber saubere Pension empfehlen könnten.

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