Er nannte den Jungen die Namen der Generäle und der Schlüsselfiguren jeder Auseinandersetzung und erklärte ihnen die politischen und geschichtlichen Hintergründe, insofern sie einen direkten Bezug zu diesem Tag hatten. Für Marcus und Gaius erweckte er die kleinen Tonfigürchen zum Leben, und jedes Mal, wenn die zwei Stunden mit ihm um waren, sahen sie sehnsüchtig zu, wie er sie langsam und sorgfältig wieder in seine Taschen packte.
Eines Tages, als sie zum Unterricht erschienen, war fast der ganze kleine Raum mit den Tonfiguren voll gestellt. Eine riesige Schlacht war aufgebaut worden, und Gaius zählte schnell die blauen Figuren, dann die roten und multiplizierte sie im Kopf, so wie er es von seinem Mathematiklehrer gelernt hatte.
»Sag mir, was du siehst«, forderte Vepax Gaius mit ruhiger Stimme auf.
»Zwei Streitkräfte, eine mit mehr als fünfzigtausend Mann, die andere mit fast vierzigtausend.
Die rote ist ... die rote ist die römische Seite, wenn man die schwere Infanterie betrachtet, die vorne in Legionsquadraten aufgestellt ist. Sie wird auf dem rechten und linken Flügel von der Kavallerie unterstützt, aber die blaue Kavallerie, die ihnen gegenübersteht, ist genauso stark. Auf der blauen Seite stehen Schleudern und Speerwerfer, aber ich sehe keine Bogenschützen, also sind die Angriffe mit Wurfgeschossen nur über eine sehr kurze Reichweite wirkungsvoll. Die Armeen scheinen fast ebenbürtig zu sein, also dürfte es eine langwierige und schwierige Schlacht werden.«
Vepax nickte. »Die rote Seite ist tatsächlich die römische. Ausnahmslos hoch disziplinierte, erfahrene Kriegsveteranen. Was wäre, wenn ich euch sage, dass die blaue Seite eine gemischte Gruppe aus Galliern, Spaniern, Numidern und Karthagern ist? Wäre das bezeichnend für den Ausgang der Schlacht?«
Marcus’ Augen leuchteten interessiert auf. »Es würde bedeuten, dass wir hier Hannibals Streitmacht vor uns haben. Aber wo sind seine berühmten Elefanten? Hast du keine Elefanten in deiner Tasche?« Marcus blickte erwartungsvoll zu dem schlaffen Stoffsack hinüber.
»Es ist tatsächlich Hannibal, dem die Römer hier gegenüberstehen. Aber bei dieser Schlacht hier waren die Elefanten schon tot. Später hat er neue aufgetrieben und sie als fürchterliche Angriffswaffe eingesetzt, aber hier musste er ohne sie auskommen. Er hat zwei Legionen weniger, und seine Truppen sind bunt zusammengewürfelt, wohingegen die römische Streitmacht einheitlich ist. Welche anderen Faktoren könnten den Ausgang der Schlacht noch beeinflussen?« »Die landschaftlichen Gegebenheiten«, rief Gaius. »Steht er auf einem Hügel? Dann könnte seine Reiterei .«
Vepax winkte sanft ab.
»Die Schlacht wurde in einer Ebene geschlagen. Es war ein kühler, klarer Tag. Hannibal hätte eigentlich verlieren müssen. Wollt ihr sehen, wie er gewonnen hat?«
Gaius starrte auf die vielen Figuren. Alles sprach gegen die blauen Truppen. Verwirrt blickte er auf.
»Dürfen wir die Figuren umstellen, während du erklärst?«
Vepax lächelte. »Natürlich. Heute brauche ich euch sogar beide, um die Schlachtreihen so zu bewegen, wie sie sich damals bewegt haben. Du führst die römische Seite, Gaius. Marcus und ich, wir übernehmen Hannibals Truppen.«
Lächelnd sahen sich die drei über die Reihen der Tonfiguren hinweg an.
»Die Schlacht von Cannae, vor einhundertsechsundzwanzig Jahren. Jeder Mann, der in dieser Schlacht gekämpft hat, ist inzwischen zu Staub zerfallen, jedes Schwert ist verrostet, aber die Lektionen sind immer noch da, um gelernt zu werden.«
Gaius wurde klar, dass Vepax sämtliche Tonsoldaten und Pferde, die er besaß, mitgebracht haben musste, um diese Schlacht nachzustellen. Obwohl jede einzelne Figur für fünfhundert Männer stand, nahmen sie den Großteil des zur Verfügung stehenden Raumes ein.
»Gaius, du bist Aemilius Paulus und Terentius Varro, die beiden erfahrenen römischen Heerführer. Du marschierst Reihe für Reihe direkt auf den Feind zu und erlaubst keine Umwege oder Nachlässigkeit in der Disziplin. Deine Infanterie ist hervorragend geschult und müsste sich gegen die Reihen ausländischer Schwertkämpfer bestens behaupten können.«
Nachdenklich rückte Gaius die Infanterie Gruppe um Gruppe nach vorne.
»Jetzt unterstütze sie mit deiner Kavallerie, Gaius. Sie darf nicht zurückbleiben, sonst kann deine Flanke angegriffen werden.«
Gaius nickte und setzte die kleinen Tonpferde so, dass sie der schweren Kavallerie unter Hannibals Befehl gegenüberstanden.
»Marcus, unsere Infanterie muss standhalten. Wir werden vorstoßen und direkt auf den Gegner treffen, und unsere Kavallerie beschäftigt die ihre an den Flügeln und hält sie dort auf.«
Wortlos und mit gesenkten Köpfen bewegten alle drei die Figuren, bis die beiden Armeen entsprechend verschoben waren und sie sich direkt gegenüberstanden. Gaius und Marcus stellten sich das Schnauben der Pferde und die durch die Luft gellenden Schlachtrufe vor.
»Und jetzt sterben die Männer«, murmelte Vepax. »Unsere Infanterie gibt jetzt in der Mitte nach, weil sie auf den bestausgebildeten Feind trifft, dem sie jemals gegenübergestanden hat.« Seine Hände flogen schnell nach vorne und setzten eine Figur nach der anderen auf eine neue Position, und er befahl den Jungen, seinen Anweisungen eilig zu folgen.
Auf dem Boden vor ihnen drängten die römischen Legionen Hannibals Mitte zurück, die vor ihnen zurückwich und kurz davor war, die Flucht zu ergreifen.
»Sie können nicht standhalten«, flüsterte Gaius. Die Legionen drängten immer weiter nach vorne, und er sah, wie der große, sichelförmige Bogen sich immer tiefer wölbte. Er hielt inne und überschaute das ganze Feld. Die Kavallerie stand immer noch am gleichen Ort und war in eine blutige Stellungsschlacht mit dem Feind verwickelt. Sein Unterkiefer klappte auf, als er sah, wie Marcus und Vepax weiter die Figuren umstellten, denn plötzlich wurde ihm der Plan klar.
»Ich würde nicht weiter vorrücken«, sagte er und Vepax hob mit fragendem Gesichtsausdruck den Kopf.
»Jetzt schon, Gaius? Dann hast du eine Gefahr erkannt, die weder Paulus noch Varro gesehen haben, bis es zu spät war. Rücke mit deinen Männern weiter vor, wir müssen die Schlacht zu Ende spielen.« Es bereitete ihm offensichtlich Vergnügen, Gaius jedoch irritierte es maßlos, dass er Spielzüge weiterführen sollte, die zur Vernichtung seiner Armee führen mussten.
Die Legionen marschierten durch die Truppen der Karthager hindurch, und der Feind ließ sie ein. Er fiel schnell und ohne Hast zurück und verlor so wenig Männer wie möglich an die vorrückende Linie. Hannibals Truppen bewegten sich vom hinteren Ende des Feldes zu den Seiten und ließen die Falle immer größer werden. Wie Vepax ihnen erklärte, war das gesamte römische Heer nach wenigen Stunden an drei Seiten vom Feind umgeben, der sich auch hinter dem eingedrungenen Keil langsam zusammenschloss, bis es in der von Hannibal erdachten Falle saß. Die römische Kavallerie wurde noch immer von gleichwertigen Kräften zurückgehalten, und die letzte Szene brauchte nur wenig Erklärung, um das grauenhafte Geschehen vollends zu verdeutlichen.
»Die meisten Römer konnten nicht kämpfen, weil sie in der Mitte ihrer eigenen, engen Formationen gefangen waren. Hannibals Männer töteten den ganzen Tag lang und schnürten die Falle immer enger zu, bis keiner mehr am Leben war. Die Vernichtung nahm ein Ausmaß an, das es weder vorher noch hinterher je wieder gegeben hat. Bei den meisten Schlachten bleiben viele am Leben, zumindest diejenigen, die am Ende noch fliehen können. Aber diese Römer hier waren von allen Seiten eingeschlossen und konnten nirgendwohin fliehen.«
Die beiden Jungen waren eine Weile ganz still und prägten die grausigen Einzelheiten ihrem Verstand und ihrer Fantasie ein.
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