Beim Schein einer dünnen Mondsichel brachen wir auf, stiegen nach Süden über den Alma, ließen den Gipfel links liegen und folgten den Trampelpfaden durch die Weingärten.
Bis wir in die Ebene hinabstiegen, stand die Venus am Himmel. Unser Führer blieb stehen, streckte den Arm aus und sagte: »Seht.« Voraus hinter den Gerstenfeldern zeichnete sich schwarz die Nordmauer Sirmiums ab.
Wir eilten weiter. Als wir die ersten verstreuten Häuser und Höfe erreichten, die außerhalb der Stadtmauer lagen, graute der Morgen. Auf den Koppeln und in den Gemüsegärten regten sich die Menschen, die ihren morgendlichen Aufgaben nachgingen. Sie blickten auf, beachteten uns aber nicht weiter. Soldaten waren ein gewohnter Anblick für sie. Ungehindert liefen sie weiter über die stillen Wege.
Das Nordtor war bewacht, wie erwartet.
Wir näherten uns in geordneter Formation wie eine heimkehrende Patrouille. Am Tor grüßte Marcellus und erklärte, wir kämen im Auftrag des Augustus persönlich und hätten eine dringende Nachricht für Lucillian. Wir warteten, bereit, beim ersten Anzeichen von Misstrauen das Schwert zu ziehen. Doch der Wächter rieb sich lediglich den Schlaf aus den Augen und winkte uns durch. Ihm fiel nicht ein zu fragen, von welchem Augustus die Rede sei.
Auf den Straßen der Stadt war es noch still. Wir kamen an einem öffentlichen Brunnen vorbei, wo ein paar Frauen ihre Krüge füllten. Ein Brotverkäufer mit einem Handkarren starrte uns an. Wir gingen weiter, als gehörten wir hierher, und hielten auf die Stadtmitte zu.
Wir gelangten an einen Torbogen mit Marmorgirlanden. Dahinter betraten wir einen ovalen Platz, der so groß war wie die Rennbahn in Vienne und von Säulenhöfen umgeben war. Der Mann neben mir schaute sich um und fragte: »Was jetzt? Wo sind wir?«
»Das gehört zum Kaiserpalast«, sagte ich. »Hier irgendwo wird Lucillian sein. Tut so, als wüssten wir genau, wohin wir müssen.«
Natürlich wussten wir das nicht. Gerade malten die ersten Sonnenstrahlen rosarote Streifen an den dunkelblauen Himmel. Wir gingen auf die Kolonnade am anderen Ende des Platzes zu, wo wir anhalten und überlegen konnten. Schon traten Männer, die wie Schreiber und Beamte aussahen, aus den Türen der umliegenden Häuser.
In diesem Moment kam ein Sklavenjunge an uns vorbei. Marcellus hielt ihn an der Schulter fest und fragte freundlich: »Wo geht es zu Lucillians Gemächern?«
Der Knabe – er konnte höchstens zehn Jahre alt sein – musterte uns kurz und ließ den Blick über Marcellus’ Uniform und den Schwertgürtel wandern. Dann zeigte er strahlend eine Zahnlücke und schickte uns mit seiner hellen Kinderstimme durch einen weiteren Torbogen.
»Braver Junge«, sagte Marcellus und strich ihm übers Haar. Der Knabe entfernte sich winkend, und wir gingen weiter und gelangten in einen kleineren, marmorgepflasterten Hof. In der Mitte stand ein Brunnen, in dem ein Bronzejüngling einen Krug voll Wasser in das runde Mosaikbecken goss. Dahinter erhob sich ein großes Haus mit drei Stockwerken, einem Säulenvordach und Stufen und Pfeilern mit vergoldetem Akanthusrelief.
Nirgends war jemand zu sehen. Wir schritten rasch die Stufen hinauf und traten durch eine Seitentür der Dienerschaft ein.
Drinnen hielten wir inne. Wir befanden uns in einem langen Gang, wo Statuen auf Onyxsockeln in Marmornischen standen. Zwischen den Säulen hingen hellblaue Seidenvorhänge, die der Wind von den oberen Fenstern sacht hin und her wogen ließ. Wachen waren keine da.
Als wir uns gerade fragten, zu welcher Seite wir uns wenden sollten, erklangen Schritte hinter den Vorhängen. Ich schloss die Hand um den Schwertgriff. Die Vorhänge teilten sich, und ein Palastdiener erschien, der fröhlich summend einen Stapel Wäsche auf den ausgestreckten Armen trug.
Als er uns sah, verharrte er und musterte uns. Rasch sagte ich: »Mir wurde gesagt, dass wir hier Lucillian finden. Ich komme in einer dringenden Angelegenheit.«
Misstrauisch spähte der Diener über den Wäschestapel hinweg und erwiderte: »Lucillian ist noch nicht aufgestanden. Wer seid ihr?«
»Es eilt«, behauptete Marcellus forsch, aber freundlich. »Wir kommen vom Kaiser persönlich.«
Daraufhin drehte der Mann sich um und legte die Wäsche auf einem Sims ab. »Oh, das konnte ich nicht wissen. Dann werde ich gehen und ihn rufen.«
Er machte sich auf den Weg und wollte uns zweifellos im Gang warten lassen. Doch wir, fünfzehn uniformierte Männer, folgten ihm durch eine hohe geschnitzte Flügeltür und eine breite Treppe hinauf.
Der Mann nahm es wortlos hin, beäugte uns nur hin und wieder unruhig. Er war gewaschen und gekämmt und mit einer gut geschnittenen gold-weißen Tunika bekleidet. Ich hielt ihn für einen hochgestellten Diener, der die Gepflogenheiten kannte und seine fünf Sinne beisammenhatte. Seine angewiderte Miene erinnerte mich daran, wie wir nach unserem langen Marsch durch Wälder und Gewässer aussehen – und riechen – mussten.
Schließlich blieb er vor einer Tür mit Skulpturenrahmen stehen, und nun gewann sein Unbehagen die Oberhand. Ich sah, wie er die Lippen zusammenkniff, und wusste, was kam.
»Wartet hier«, sagte er. »Eure Bitte ist unüblich. Deshalb werde ich jemanden vom Empfangsdienst rufen.« Doch ehe er sich abwenden konnte, packte Marcellus ihn beim Handgelenk.
»Das wird nicht nötig sein«, sagte er leise.
Der Diener riss die Augen auf und blickte Marcellus ins Gesicht; dann starrte er auf den Dolch, den ich ihm vor die Nase hielt. Danach brauchten wir ihm nichts mehr vorzuspielen.
Marcellus schob den Diener beiseite, drückte das Ohr an die Tür, um zu horchen, und öffnete sie behutsam.
Dahinter befand sich ein rechteckiger, hoher Raum mit Wandgemälden. An einer Seite stand ein mit Pergamenten übersätes Schreibpult, auf dem drei oder vier Lederhüllen lagen, in denen kaiserliche Depeschen befördert wurden. Es gab auch eine Liege mit vergoldeten Löwenfüßen und grün-weißen Polstern; daneben, auf einem niedrigen Zypressenholztischchen, stand ein Glaskrug nebst goldenen Bechern.
Doch Lucillian war nicht da.
Ich zeigte dem Diener meine Klinge und fragte: »Wo ist er?«
Der Diener schluckte und deutete mit dem Kopf in eine Ecke hinter dem Schreibpult, wo durch einen Spalt in den dicken roten Vorhängen eine kleine Tür zu sehen war. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und ging leise über den glänzenden Boden, Marcellus an meiner Seite. Dann gab ich den anderen ein Zeichen, worauf sie uns ebenso leise folgten. Ich lauschte. Aus dem Nebenzimmer war nichts zu hören. Nach einem warnenden Blick zum Diener öffnete ich langsam die Tür.
Die Fensterläden waren geschlossen. Durch die Ritzen drangen Sonnenstrahlen. Im Bett murmelte eine müde Stimme: »Noch nicht, Agilo, geh hinaus.«
Er lag auf der Seite, die Decke über die Ohren gezogen, das Gesicht in dem weißen Leinenkissen versunken.
Auf Zehenspitzen schlichen wir ans Bett und umstellten es. Dann beugte sich einer der Männer über ihn und flüsterte: »Zeit zum Aufstehen.«
Einen Moment lang rührte er sich nicht. Dann fuhr er aus seinen Decken hoch und erstarrte, als er die fünfzehn Klingenspitzen sah, die auf ihn gerichtet waren.
»Verzeih, edler Lucillian, dass wir dich erschreckt haben«, sagte ich. »Es ist ein schöner Morgen, und Kaiser Julian würde gern ein Wort mit dir wechseln. Darum sei so gut und kleide dich an, damit wir sogleich zu ihm können.«
So kam es, dass Sirmium, die mächtige Kaiserstadt, wo Constantius erst ein paar Monate zuvor Hof gehalten hatte, durch fünfzehn Soldaten fiel. Lucillian leistete keinen Widerstand. Auch sonst stellte sich uns niemand entgegen. Während des kurzen Marsches zur Donau fragte er immer wieder, wie wir mit unserem Heer hatten vorrücken können, ohne dass er davon erfahren hatte. Wir antworteten nicht, und nach einiger Zeit verfiel er in Schweigen, denn er vermutete wohl, er würde noch am selben Tag hingerichtet und wir brächten es nicht übers Herz, mit einem Todgeweihten zu sprechen.
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