»Es tut mir leid«, sagte er ergriffen und verängstigt zugleich. »Ich war dumm. Ich.«
Dann wußte er nicht mehr, was er sagen sollte, und so schauten sie sich nur an. Inzwischen waren beide knallrot geworden. Im Hinterkopf hörte er es warnend dröhnen: »Glücklicherweise hast du dich aufs Flötespielen beschränkt! Die Götter mögen verhüten, daß zwischen dir und der Schwester des Königs etwas passiert!« Was würde ein Tyrann einem Mann antun, der seine Schwester verführt hat?
Was würde die Schwester tun, wenn er sie zurückwies? Alte Sagen schwirrten ihm durch den Kopf: Bellerophon und Hippolytos -beide hatten Königinnen abgewiesen und waren hinterher von ihnen zu Unrecht der Vergewaltigung bezichtigt worden. Wenn er Delia so anschaute, konnte er zwar kein Wort davon glauben - und doch war die Situation an und für sich schon unvorstellbar. Und die Sagen waren nicht aus der Welt zu schaffen, ob er ihnen Glauben schenkte oder nicht.
»Du darfst nicht glauben, daß ich das Vertrauen meines Bruders mißbrauchen möchte«, sagte sie plötzlich wild entschlossen. »Hieron hat mich immer nur freundlich behandelt, und ich würde ihm nie Schande bereiten.« Sie brach ab. Sie wußte ganz genau, daß sie längst das Vertrauen ihres Bruders mißbraucht und den ersten Schritt getan hatte, um seinem Haus Schande zu bereiten. Bis jetzt war es nur ein kleiner Schritt gewesen, aber dieses Treffen hatte ihr Herz nicht im geringsten von seiner Narretei heilen können, im Gegenteil. »Ich wollte dich doch nur besser kennenlernen«, fuhr sie noch verunsicherter fort. Plötzlich erkannte sie, daß sie ihm sogar noch schändlicher mitspielte als Hieron. Selbst durch ihr bisheriges Verhalten konnte sie ihn tief verletzen, seine Karriere vernichten und seinen guten Ruf ruinieren. Der König bat ihn mit größter Güte behandelt, und zum Dank dafür hat er dann versucht, die Schwester des Königs zu verführen! Verführung war ein Verbrechen, und sie verlangte sogar noch von ihm, daß er die Strafe des Verführers riskierte, ohne wenigstens die entsprechende Belohnung erhalten zu haben. Schamlos! Egoistisch! Herzlos! Sie wandte sich ab. Vor Scham zerriß es ihr fast das Herz. Scham, wohin sie nur schaute. Sie zog ihren Schleier nach vorne, um die heißen Tränen zu verbergen, die ihr aus den Augen quollen.
Einen Augenblick schaute er sie nur an - die Tränen, die Verwirrung. Dann vergaß er - wie üblich -, daß sie die Schwester des Königs war, und ergriff ihre verkrampfte Hand. Ein hoffnungsloser Blick traf ihn aus ihren nassen, roten Augen. Ein Kuß schien die natürlichste Sache der Welt zu sein. Und das tat er dann auch. Es war, als ob er den Urgrund aller Dinge gefunden hätte, die Lösung des Rätsels, es war, als ob er nach Hause gekommen wäre. Ein ganzer Notenregen fiel taktgenau auf einen Schlag, und zwei Tonlagen verschmolzen in völliger Harmonie.
Sie löste sich zuerst, schob ihn mit dem Handgelenk zurück, schlang die Arme um sich und versuchte, ihr inneres Chaos in schlüssige Emotionen zu bündeln. »Oh, ihr Götter!« rief sie verzweifelt.
»Tut mir leid«, meinte er betreten. Es war eine Lüge. Ihm tat nichts leid. Er freute sich riesig und fühlte sich geschmeichelt. Er hatte Angst und hätte am liebsten nichts damit zu tun gehabt. Und ganz tief drinnen war noch etwas, was alles noch viel komplizierter machte: Delia hatte ihn verzaubert. Dieses kluge, stolze, entschlossene Mädchen mit den wunderschönen, schwarzen Augen und einem herrlich geformten, warmen Körper, der in seinem eigenen ein unerhörtes Prickeln hinterlassen hatte. Er wollte nicht nur mit ihr schlafen, sondern danach gemeinsam mit ihr im Bett sitzen und reden und lachen und Flöte spielen. Wie bei einem neuen Theorem eröffnete sie ungeahnte, weit verzweigte Möglichkeiten, eine ganze Stufenleiter logischer Zusammenhänge aus wenn und dann bis zum abschließenden was zu beweisen war.
Leider war es um die meisten Möglichkeiten nicht gut bestellt. Nach einem Moment fügte er zweifelnd hinzu: »Hältst du es wirklich für ratsam, daß wir uns besser kennenlernen?«
»Nein«, sagte sie, halb lachend, halb schluchzend. »Ich halte es für ziemlich dumm.«
Aber, aber, sagte etwas in ihrem Blut, aber ich will dich. Ich will, daß du mich noch einmal küßt, ich will dein Gesicht berühren und dir mit den Fingern über die Haare streicheln. Deine Augen sind wie Honig, weißt du das? Aber, dich ruinieren und Hieron Schande bereiten - nein.
»Ich dachte, es würde mich überzeugen, daß ich’s nicht will«, gestand sie kläglich, »aber es kam anders.«
Er seufzte. Nein, sie war nicht Phaedra und er nicht Hippolytos. Er mußte wieder an das Lied denken, das er nach der Fertigstellung des »Begrüßers« auf dem Weg zu ihrer Tür gesummt hatte. Die flehentliche Bitte an Aphrodite um die Liebe dieses Mädchens. Offensichtlich hatte ihn die Göttin erhört. Die das Lachen liebt, so nannte man Aphrodite, aber ihr Sinn für Humor schien ins Schwarze zu gehen. Wenn doch sein Vater noch lebte! Nicht daß er mit Phidias darüber hätte reden können - bei den Göttern, nein! -, aber wenigstens wäre dann sein Herz frei von diesem schmerzhaften Verlust und dem Bedürfnis, Trost zu finden. »Und was machen wir jetzt?« fragte er. Aber kaum hatte er den Satz ausgesprochen, erkannte er, wie tödlich schwach es war, ihr die Entscheidung zu überlassen. Andererseits war ihm völlig klar, was sie tun sollten, auch wenn es nichts mit dem zu tun hatte, was er tun wollte.
Sie war schon immer stolz auf ihre Willensstärke gewesen. Vielleicht war sie nicht so elegant und majestätisch wie ihre Schwägerin und nicht so bescheiden und charmant wie die Mädchen, mit denen sie unterrichtet worden war, dafür besaß sie Charakterstärke. »Wir sollten tun, was klug ist«, sagte sie bestimmt und -bedauerte es sofort. Ein Blick auf ihn sagte ihr, daß auch er es bedauerte. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf sein Gesicht. Sofort küßte er sie wieder. Genau das hatte sie gewollt, auch wenn es nicht klug war.
Kurze Zeit später verließ sie den Garten. Entschlossen hatte sie alle Pläne für ein Wiedersehen abgelehnt. Und doch dachte sie schon längst wieder darüber nach, wie einfach alles zu arrangieren wäre. Und bereits jetzt hegte sie den Verdacht, daß die Klugheit nicht siegen würde.
Nur acht Tage später tauchten die Römer vor den Toren von Syrakus auf - zwölf Tage nach dem Begräbnis von Phidias.
Archimedes hatte den Großteil der Zwischenzeit mit dem Bauen von Katapulten verbracht. Selbst während seiner Vorbereitung für die Vorführung war er immer wieder in der Werkstatt aufgetaucht, und nach dem Begräbnis begrub er sich buchstäblich in Arbeit. Er wollte weder an seinen Vater noch an seine eigene Zukunft denken und schon gar nicht an das Netz, in das er sich gemeinsam mit Delia immer mehr verstrickte. Sie hatte ihm eine Nachricht geschickt, um ein zweites Stelldichein zu arrangieren. Ich darf nicht gehen, hatte er sich gesagt, und war dann doch aufgetaucht. Sogar zu früh. Vom Arethusa-Brunnen aus waren sie zu einem ruhigen Platz in der Nähe des Apollon-Tempels spaziert, wo sie sich hingesetzt und Flöte gespielt hatten. Das heißt, sie hatte ihre Flöten mitgebracht. Und natürlich hatten sie sich geküßt. Insgesamt war alles ganz unschuldig und lieb gewesen, und er hatte keine Ahnung, was daraus werden sollte. Vermutlich nichts Gutes. Solange er aber jeden wachen Moment nur an Katapulte dachte, mußte er nichts befürchten.
Früher war es in der Werkstatt ruhig gewesen, aber in den letzten zwölf Tagen war Hektik ausgebrochen. Man hatte zusätzlich Handwerker aus der Armee abkommandiert, die beim Nageln und Sägen helfen sollten. Kaum waren die Entwürfe fertig, wurden die Katapulte auch schon zusammengebaut - immer zwei gleichzeitig, das eine von Archimedes, das andere von Eudaimon. Seit dem gelungenen Test des »Begrüßers« hatte sich der alte Katapultingenieur mürrisch und abweisend verhalten. Allerdings ging er jedem möglichen Streit aus dem Wege und konzentrierte sich ganz auf die Kopie der archimedischen Entwürfe: einen Ein-Talenter wie den »Begrüßer« und zwei Hundert-Pfünder. Archimedes kam regelmäßig hinzu und prüfte, ob die Maße der Kopien stimmten. Jede fertige Kopie brachte ihm zehn Drachmen ein.
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