»Das da nicht!« erklärte ihm Archimedes hastig. »Das gehört oben drauf. Nein - nein, laß die Finger davon! Wenn du schon helfen willst, dann geh und hol mir die Kreide!«
Kurze Zeit schaute der Vorarbeiter Epimeles noch zu, wie der massive Balken auf den Verbindungsbolzen in der Lafette gesetzt wurde. Archimedes hatte im voraus annähernd den Punkt des Gleichgewichts berechnet und befahl, hier entlang eine Reihe Löcher zu bohren. Es stellte sich heraus, daß der Ladestock am besten auf dem mittleren Loch die Balance hielt. Epimeles lächelte. Er wartete noch eine Minute länger, während sich die riesige Maschine als Antwort auf die Winden nach links und rechts drehte. Dann seufzte er und verließ zögernd das Gebäude. Er hatte einen langen Marsch vor sich.
Erst in der Dämmerung kehrte Epimeles auf die Ortygia zurück, begab sich aber nicht direkt in die Kasernen neben der Werkstatt, wo er und die anderen Handwerker lebten. Statt dessen ging er zum Haus des Königs und klopfte an die Tür.
Agathon öffnete - schließlich war das seine Aufgabe - und betrachtete mißmutig den Vorarbeiter der Werkstatt. »Dein Begehren?« wollte er wissen.
»Ich komme, um dir etwas zu zeigen«, erwiderte Epimeles gelassen.
Agathon schnaubte und bat ihn herein.
Gleich neben der Tür hatte der Türhüter seine Pförtnerloge, einen kleinen, aber gemütlichen Raum mit Liege, Teppich und einem steinernen Wasserkühler an der Innenwand. Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte sich Epimeles auf das eine Ende der Liege und begann, seine Waden zu massieren. »Bin heute nachmittag bis zum Euryalus hinaufgegangen und wieder zurück«, erklärte er. »Ich könnte gut einen Becher Wein vertragen. «
Agathon zog ein noch mißbilligenderes Gesicht als sonst, nahm aber trotzdem einen Krug, der neben der Wand stand, goß etwas Wein in zwei Becher und fügte ein bißchen frisches, kühles Wasser aus dem Stein hinzu. »Warum sollte es mich interessieren, daß du droben im Euryalus warst?« fragte er, während er an seinem Wein nippte.
Epimedes trank seinen Wein beinahe in einem Zug, dann setzte er den Becher ab. »Weil ich wegen diesem Ingenieur dort oben war, um den wir uns in deinem Auftrag kümmern sollen«, sagte er. »Und das habe ich gefunden.« Er öffnete den kleinen Sack, den er bei sich trug, und zog eine dünne Kordelrolle heraus, die durch eine Reihe regelmäßiger, rot oder schwarz gefärbter Knoten unterteilt war.
Agathon musterte sie mit einem Pokergesicht, dann meinte er: »Was ist daran besonders, wenn ein Fort ein Maßband besitzt?«
Epimedes zog ein zweites Maßband aus dem Sack. Auf den ersten Blick schien es mit dem ersten identisch zu sein, nur älter und ein wenig ausgefranst und verfärbt. Er breitete beide Kordeln nebeneinander aus, und damit war sofort klar, daß die beiden ganz und gar nicht identisch waren. Die Abschnitte der neuen Kordel waren kürzer als bei der alten. »Diese gehört mir«, meinte Epimeles, wobei er die alte Kordel berührte. »Die ist genau.«
Ohne eine Miene zu verziehen, betrachtete Agathon beide Kordeln.
»Du weißt doch, daß man beim Katapultbau unbedingt darauf achten muß, daß alle Teile exakt im richtigen Verhältnis zum Bohrloch stehen?« fragte Epimeles listig. »Dazu nimmt man ein funktionierendes Katapult, vermißt es und reproduziert es im selben Maß oder vergrößert bzw. verkleinert es.«
»Meines Wissens habe ich davon gehört«, sagte Agathon, obwohl er in Wirklichkeit nicht allzuviel von Katapulten verstand. Aber das wollte er keinesfalls zugeben. Jedenfalls verstand er genug, um die ganze Tragweite der Kordelaffäre zu begreifen. »Du willst damit andeuten, Eudaimon habe das hier auf dem Euryalus liegen gelassen«, er deutete auf das neue Maßband, »damit jeder, der die Maschinen vermißt, falsche Zahlen bekommt, also auch jedes nach diesem Vorbild gebaute Katapult nicht funktioniert?«
Epimeles nickte. »Schau«, sagte er, »die beiden Fünfzig-Pfünder auf dem Euryalus sind zur Zeit die größten Katapulte der Stadt. Eudaimon nahm an, Archimedes würde sie vermessen und daraus die notwendigen Vergrößerungen ableiten, um noch einmal zehn Pfund mehr schleudern zu können. So hätte er jedenfalls selbst den Bau eines Ein-Talenters angepackt. Heute nachmittag stellte sich nun heraus, daß sich Archimedes nicht die Mühe gemacht hatte, zum Euryalus hinauszugehen, sondern statt dessen seine Maße von einem kleinen Fünfzehnpfünder ganz in der Nähe abgenommen hatte. Eudaimon war.« zögernd suchte der Vorarbeiter nach Worten, dann sagte er, »empört, schockiert und enttäuscht. Als ich das sah, dachte ich mir, ich gehe mal zum Euryalus hinauf und schaue, was er im Schilde geführt hat. Und peng - habe ich das da im Geräteraum gefunden. Alle Burschen im Fort haben bestätigt, daß dort ihr altes Maßband aufbewahrt wurde, aber dies hier ist neu, und sie hatten keine Ahnung, wie es dort hingekommen war. Allerdings erinnerten sie sich noch daran, daß Eudaimon vor vier Tagen am Nachmittag herausgekommen war.«
»Ich verstehe«, sagte Agathon grimmig.
Das Beweisstück reichte nicht aus, um einen Mann des Verrates zu überführen, das wußten sie beide, aber es könnte eine Tretmine sein, ein Fragezeichen, ein Stein im Schuh. Es könnte Eudaimon weh tun.
Epimeles schob dem Türhüter die Kordel zu. »Ich dachte, du solltest dich darum kümmern.«
Gedankenvoll nickte Agathon, hob das falsche Maßband auf und begann, es um die Hand zu wickeln. »Es überrascht mich, daß du den ganzen weiten Weg zm Euryalus gemacht hast, um danach zu suchen«, sagte er. Die Festung lag genau am entgegengesetzten Ende der Stadt, zehn Kilometer von der Ortygia entfernt.
Bei dieser Bemerkung grinste Epimeles. »Ich wäre doppelt so weit gelaufen, wenn ich deinem Burschen damit zur Oberaufsicht über die Katapulte verholfen hätte. Und die bekommt er doch, oder?«
Verblüfft schaute Agathon auf.
»Nun, du weißt doch, daß er gut ist!« sagte Epimeles, der seinerseits von der fragenden Miene überrascht war. »Auf deinen Auftrag hin sollten wir uns um ihn kümmern und sicherstellen, daß niemand bei seinem Ein-Talenter dazwischenfunkt. Und wir haben rasch kapiert, warum. Er ist so gut, daß ihm nicht einmal klar ist, wie gut er ist. Dieser Ein-Talenter - weißt du eigentlich, was er damit angestellt hat? Klar, der kleine Fünfzehn-Pfünder, den er kopiert hat, läßt sich drehen, also hat er sich ein Windensystem ausgedacht, damit sich auch der Große drehen läßt. Als ich ihm sagte, daß sich die Fünfzig-Pfünder auf dem Euryalus nicht drehen lassen, hat er nur erstaunt geschaut und gemeint: >Nun, das ist aber blöd!<���«
Epimeles lachte. Agathon musterte ihn ärgerlich und fragte: »Ist es das denn?«
»Die Leute werden es jedenfalls von nun an behaupten, stimmt’s? Aber bisher hat noch keiner erwartet, daß sich irgend etwas drehen läßt, das größer ist als ein Vierzig-Pfünder. Archimedes hat ganz beiläufig ein völlig neues System erfunden, mit dem sich große Maschinen zielgenau ausrichten lassen - und er weiß es nicht einmal! Der Entwurf fiel ihm leichter als ein Marsch auf den Euryalus, um nachzusehen, wie es andere vor ihm gemacht haben. Einige Burschen mußten darüber lachen, und er hat nicht einmal den Grund dafür verstanden. Beim Zeus! Eudaimon tut mir fast schon leid. Er hat noch nie ein Katapult gebaut, das nicht stückweise von einem anderen Katapult kopiert worden war. Und wenn er keine exakten Maßangaben bekommt - und bei den großen Maschinen fällt jede ein wenig anders aus -, ist er auf Vermutungen angewiesen. Dann plagt er sich ab, rennt in der ganzen Stadt herum und versucht, herauszufinden, welches die richtigen Zahlen sind. Archimedes setzt sich hin, kritzelt eine halbe Stunde herum und hat die perfekte Zahl in den Händen. Beim Zeus! Eudaimon erinnert mich an einen kleinen, ortsansässigen Sportlehrer, der jedes Jahr hart trainiert und dann mühsam den dritten oder vierten Platz bei den Stadtspielen erreicht. Und jetzt versucht er gegen einen Kerl anzutreten, der selbst in Olympia siegen könnte, ohne recht viel Schweiß zu vergießen. Er ist nicht gut genug, um im gleichen Wettbewerb anzutreten. Und er ist nicht einmal so gut, daß er es einsieht!«
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