»Alles Angabe«, meinte Agathon kurz angebunden, »wie so mancher andere Mann, wenn er ein hübsches Mädchen trifft. Und was wäre der zweite interessante Punkt an Archimedes, dem Sohn des Phidias?«
»Er hat diese Berechnungen mehr geliebt als seine Augen.«
Plötzlich schnaubte Agathon vor Lachen. »Da hast du’s, ein echter Sohn seines Vaters. Phidias soll behauptet haben, Euklids >Ele-mente< wären bedeutender als die >Ilias< von Homer. Angeblich hat er auch den Göttern wegen einiger mathematischer Gestirnsbeobachtungen ein Dankopfer dargebracht.«
»Du weißt etwas über ihn?«
»Fast ganz Syrakus kennt Phidias, den Astronom. Ein kleiner Exzentriker mit einem gewissen Ruf, verstehst du? Unterrichtet auch. Der einzige Mensch in der ganzen Stadt, der höhere Mathematik lehrt. Der Herr hat damals für kurze Zeit bei ihm studiert, tja, muß so fünfzehn, zwanzig Jahre her sein.«
Delia starrte ihn an. Bei Agathon bezog sich das Wort »Herr« immer ausschließlich auf Hieron. »Das habe ich ja gar nicht gewußt!« rief sie.
»Warum solltest du auch?« fragte Agathon. »Ist lange her, noch bevor er mich gekauft hat. Aber der Herr hat einige Male gesagt, er hätte gern mehr Zeit, um bei Phidias Mathematik zu studieren. So waren’s nur ein paar Monate, verstehst du? Dann hat dein Vater nicht mehr für den Unterricht bezahlt, und der Herr ist zum Militär. Vermutlich erinnert sich Phidias nicht einmal mehr an ihn.«
Delia nickte. Diese Geschichte kannte sie nur zu gut. Ihr Vater hatte für die Erziehung seines Bastards bezahlt, allerdings nur, bis der Junge siebzehn war. Fürs Militär war Hieron ein Jahr zu jung gewesen - später kam er dann unfreiwillig dazu - und mußte sich selbst durch die Welt schlagen, mit außerordentlichem Ergebnis.
»Und warum bedauert es Hieron, daß er nicht länger studieren konnte?« fragte sie. »War Phidias ein sehr guter Lehrer?«
»Glaube ich nicht«, meinte Agathon, »nein, aber Könige können doch immer etwas mit Mathematik anfangen. Kriegsmaschinerie, Landvermessung, Bauten, Navigation.« Agathon hielt inne und starrte Delia an, bis seine mißbilligende Miene schließlich ganz verschwunden war. Er löste seine verschränkten Arme und rief: »Na schön! Du hast ja recht. Er würde sich für Archimedes, den Sohn des Phidias, interessieren. Wenn das Selbstbewußtsein dieses Burschen begründet ist, könnte er einiges wert sein.«
Delia nickte.
»Mal sehen, was ich herausfinden kann«, sagte Agathon. Nach einem weiteren Blick auf Delia fragte er: »Und was noch?«
Schon wieder hatte er es geschafft. Delia seufzte. »Wie weit würdest du Eudaimon trauen?« fragte sie.
»Aha«, sagte Agathon, wobei sein Gesicht den leutseligsten Ausdruck annahm, zu dem er überhaupt fähig war. »Du meinst, ob ich es für möglich halte, daß er einen Sabotageversuch auf das EinTalenter-Katapult deines staubigen Musikers unternimmt?«
Einen Augenblick gab Delia keine Antwort. Jede Andeutung, Eudaimon könnte bewußt eine Maschine unbrauchbar machen, die für die Verteidigung der bedrohten Stadt von großer Bedeutung sein könnte, war gleichbedeutend mit einer Anklage auf Verrat. »Ich kenne ihn nicht sehr gut«, sagte sie schließlich bescheiden, »aber Vater hat ihn seit Hierons Abreise verwünscht. Offensichtlich ist er wütend, weil er einen Rivalen hat. Und außerdem mag ich ihn nicht. Das ist alles.«
Agathon zuckte die Schultern. »Er ist ein Mann, der sein ganzes Leben gearbeitet hat und doch in seiner Arbeit nie wirklich gut geworden ist. Er ist der schlechteste Ingenieur unseres Herrn. Deshalb ist er auch hier und nicht in Messana. Er ist verbittert und müde und wird langsam alt. Also verteidigt er seine Position mit Zähnen und Klauen. Er hat keine Lust, daß irgendein in Alexandria ausgebildeter Flötenspieler mit Mathematikbegabung hier hereinplatzt und ihm die Schau stiehlt - soviel steht fest. Meiner Meinung nach wird er sich einreden, daß dieses Katapult sowieso nicht funktionieren wird, aber trotzdem wird er sichergehen wollen, daß es auch so kommt. Ja, wenn sich die Gelegenheit zur Sabotage bietet, wird er sie meiner Meinung nach ergreifen. Du möchtest, daß ich dafür sorge, daß er diese Gelegenheit nicht bekommt.«
»Würde das nicht auch Hieron von dir wünschen?« fragte sie unschuldig.
Wieder prustete Agathon. »Du und der Herr!« meinte er liebevoll. »Ich weiß nicht, woher ihr das habt. Von der Mutter nicht, weil ihr keine gemeinsame habt, und von eurem Vater erst recht nicht, denn der war ein Narr.«
Lächelnd stand Delia auf. »Kannst du dafür sorgen?« fragte sie gespannt. »Natürlich ohne Eudaimon in irgendeiner Weise zu beschuldigen.«
»Oh, ja!« erwiderte Agathon ruhig. »Ein paar Worte ins Ohr des Vorarbeiters in der Werkstatt genügen. Er weiß, wer ich bin, und wird auf beide ein Auge haben, auf das Katapult und auf Eudaimon. Beim geringsten Verdacht wird er mir Meldung machen. Möchtest du, daß ich auch mit dem Regenten ein Wörtchen rede?«
Delia nickte. »Aber«, fügte sie nervös hinzu, »sag ihm nicht, daß ich.«
».irgendein Interesse an Aulos-Spielern mit Weinflecken habe. Nein.«
»Man würde es mißverstehen«, sagte Delia errötend.
»Das will ich doch hoffen«, sagte Agathon. Der mißbilligende Blick war wieder da. »Ich will ganz bestimmt hoffen, daß er alles und doch nichts falsch versteht.«
Dionysios, der Sohn des Chairephon, begleitete Archimedes vom Haus des Königs bis zum Athenetempel an der Hauptstraße, wo er stehenblieb. »Ich bin auf dem Weg zu den Kasernen«, sagte er mit einer Handbewegung nach links. »Ich halte es für besser, wenn du heimgehst und dich ein bißchen hinlegst.« Jetzt deutete er nach rechts zur Achradina hinüber. »Eudaimon hat dich ganz schön zugerichtet.«
»Er ist ein blödes Arschloch!« sagte Archimedes aus tiefstem Herzen. »Bei Apollon! Baut Katapulte und weiß nicht mal, was ’ne Kubikwurzel ist! Wer ist wirklich der Ingenieur von Syrakus?«
»Kallippos«, erwiderte Dionysios sofort. »Ein vornehmer Herr aus gutem Hause mit noch besserer Begabung. Allerdings ist er beim König in Messana. Der König dachte, Eudaimon würde mit den Aufgaben hier in der Stadt fertig werden, aber uns war nicht klar, wieviel getan werden muß. Warte hier. Ich werde deinen Freund Straton holen und ihm sagen, er soll dir nach Hause helfen.«
Archimedes schüttelte den Kopf, aber vorsichtig, weil sein Auge bei jeder plötzlichen Bewegung weh tat. Dann drehte er seinen nassen Lederklumpen herum, um noch eine kühle Stelle zu finden. »Ich würde lieber in die Werkstatt gehen und mein Holz bestellen«, meinte er. Plötzlich fiel das Leder auseinander und entpuppte sich als langer, breiter Streifen. Archimedes blinzelte ihn an. Diese Form kannte er nur allzugut. »Oh«, meinte er verdutzt, »sie hat ihr Mundband ruiniert.« Dann begriff er, daß er eine Entschuldigung hatte, um sie wiederzusehen. Er konnte ihr ein neues Mundband geben. Trotz seiner Augenschmerzen strahlte er. Vorsichtig faltete er das Leder zusammen und legte es sich wieder zärtlich aufs Auge.
»Spielst du denn wirklich Aulos?« fragte Dionysios neugierig.
»Natürlich tu ich das!« sagte Archimedes überrascht. »Glaubst du vielleicht, die Schwester des Königs hätte sich sonst auch nur zwei Sekunden mit mir unterhalten?«
»Ich hatte es gehofft«, antwortete Dionysios. Er war erleichtert, daß sein neuer Partner einschätzen konnte, wann ein Mädchen außerhalb seiner Reichweite lag. »Außerdem, mein Freund, hättest du dich überhaupt nicht mit ihr unterhalten dürfen. Als ich dich so mit ihr im Garten plaudern sah, habe ich nicht nur erwartet, daß man dich auf der Stelle fortschickt. Innerlich hatte ich mich schon darauf eingestellt, daß ich selbst Probleme bekommen würde, weil ich dich als erster eingeladen habe. Nai, beim Zeus, glücklicherweise hast du dich aufs Flötespielen beschränkt! Nun, wenn du wirklich in die Werkstatt willst, kann ich dir den Weg zeigen. Gleich rechts nach den Kasernen.«
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