Mit einem empörten Schrei sprang Archimedes auf, um seine Berechnungen zu retten, aber Eudaimon stellte den Fuß auf das Papyrus. Archimedes konnte nur noch an der eingeklemmten Ecke herumzerren, die unter der Sandale herausschaute. »Du glaubst also, du könntest Katapulte bauen, weil du etwas von Mathematik verstehst?« fuhr ihn der oberste Katapultingenieur an.
Archimedes, der noch immer zu seinen Füßen kniete und an dem zerknüllten Blatt herumzerrte, warf einen wütenden Blick in die Höhe. »Ja, bei Zeus!« rief er erhitzt. »Ich behaupte sogar, daß ein Mensch, der nichts von Mathematik versteht, logischerweise auch keine Katapulte bauen kann. Du verstehst es nicht oder kannst es nicht, denn sonst wäre ich nicht hier!«
Wütend trat Eudaimon mit dem Fuß nach ihm. Die Geste war mehr als Drohung gemeint. Er wollte ihn nicht richtig treffen, aber als er den Fuß hob, stürzte sich Archimedes auf seine Berechnungen. Der Tritt traf ihn mitten ins rechte Auge. Es war wie eine Explosion, die ihm direkt ins Gehirn schoß. Rote und grüne Sterne tanzten vor seinen Augen. Wie gelähmt sackte er zusammen, umklammerte sein Gesicht mit beiden Händen und wälzte sich keuchend vor Schmerz auf dem Boden hin und her. Er nahm verschwommen wahr, daß ihn Menschen umringten. Jemand versuchte, ihm die Hände vom Gesicht zu ziehen.
Aber er umklammerte mit einer Faust eisern das Papyrus und wehrte sich.
»Na los!« rief eine Männerstimme. Er begriff, daß es Hauptmann Dionysios war. »Laß mich dein Auge sehen.«
Daraufhin ließ Archimedes die Hände sinken, hielt aber immer noch den Papyrus fest umklammert. Vorsichtig untersuchte Dionysios die Verletzung. »Versuch mal, dein Auge aufzumachen«, meinte er. »Kannst du sehen?«
Archimedes blinzelte ihn an. Das Gesicht des Hauptmanns waberte vor seinen Augen hin und her. Die eine Hälfte konnte er klar sehen, während die andere nur ein verschwommenes, rötliches Etwas war. Stöhnend legte er eine Hand über den verschwommenen Fleck. »Unscharf«, sagte er, »du siehst rot aus.«
Dionysios hockte sich auf die Fersen. »Du hast Glück. Hättest das Auge verlieren können. Aber so ist’s kein bleibender Schaden.« Er klopfte Archimedes auf die Schulter und stand auf.
Langsam richtete sich Archimedes auf, setzte sich mit dem Rük-ken gegen die Brunnenschale und rieb wieder sein Auge. Es tat weh. »Beim Apollon!« murmelte er. Mit seinem guten Auge schaute er sich nach Eudaimon um, der mit betretener Miene dastand. Wütend funkelte er ihn an.
Plötzlich beugte sich Delia über ihn, nahm ihm wortlos das zerknitterte Papyrus aus der Hand und gab ihm statt dessen einen nassen Lederklumpen. Das kühle Naß tat seinem brennenden Gesicht unbeschreiblich gut. »Danke!« sagte er bewegt.
Sie merkte, wie ihr sein gutes Auge trotz allem einen Moment lang folgte und sich erst dann wieder auf die anderen richtete, als er sah, daß seinen Berechnungen nichts geschah.
Die Männer fingen eine Diskussion über die Unfallfolgen an: Leptines tadelte Eudaimon. Eudaimon protestierte, alles sei nur Zufall gewesen. Dionysios schlug vor, er wolle seinen Schützling nach draußen bringen, und der Schützling versuchte seinerseits, auf das Thema seiner Anstellung als Katapultmacher zurückzukommen. Delia hielt sich zurück und ließ sie gewähren. Sie strich das zerrissene Papyrusstück glatt und schaute es sich genauer an.
Es enthielt die präzise, sorgfältig ausgeführte Zeichnung eines Katapults mit sämtlichen Maßen. Sie drehte das Blatt um. Auf der Rückseite waren in derselben sorgfältigen Handschrift Skizzen, die für sie weniger Sinn ergaben: Zylinder, von Geraden geschnittene Kurven, mit Wellenlinien oder Pfeilen kombinierte Buchstabenpaare und dazu noch einige Zahlen, die schon beim Katapult gestanden waren. Stirnrunzelnd wanderte ihr Blick wieder zu dem jungen Mann hinüber, der noch immer am Brunnenrand lehnte. Bis zu diesem Augenblick hatte sie ihn gar nicht richtig wahrgenommen. Was er ihr über die Zwischentöne auf dem Aulos erzählt hatte, hatte sie interessiert, und von der Geschichte mit dem Wasseraulos war sie begeistert gewesen. Es hatte ihr gefallen, daß er sich auch dann noch völlig natürlich mit ihr unterhielt, nachdem er entdeckt hatte, wer ihr Bruder war. Mit Sorge hatte sie bemerkt, daß sie ihn vielleicht in Schwierigkeiten gebracht hatte. Aber trotz allem hatte es sie nicht wirklich interessiert, wer er war. Jetzt kam sie sich vor, als ob sie mit dem Zeh an einen Felsen gestoßen wäre und bei genauerem Hinsehen gemerkt hätte, daß er zu einer vergrabenen Stadt gehörte. Er hatte diese unverständlichen Wellenlinien eifersüchtiger als seinen Augapfel gehütet. Welches Gehirn mochte wohl derart merkwürdige Prioritäten setzen?
Dionysios half Archimedes auf die Beine, Leptines erkundigte sich nach seinem Befinden, und Archimedes, schwor, alles sei in Ordnung. Anschließend wurde wieder über den Katapultbau diskutiert und schließlich ein Preis für das fertige Katapult festgesetzt: fünfzig Drachmen - wenn es funktionierte. Als dieser Punkt gelöst war, trat Delia vor und händigte Archimedes seine Berechnungen aus. Schwankend verbeugte sich Archimedes, der noch immer den nassen Lederklumpen ans Auge preßte, wünschte der ganzen Gesellschaft einen guten Tag und taumelte Richtung Tür, gefolgt von Hauptmann Dionysios, der seinen Arm nahm und ihn hinausgeleitete.
Delia wartete. Leptines drehte sich zu ihr um, dann stieß er einen resignierten Seufzer aus und trollte sich wortlos. Sie war noch nie folgsam gewesen, weshalb er schon längst jeden Disziplinierungsversuch aufgegeben hatte. Eudaimon verbeugte sich und stakste in die entgegengesetzte Richtung davon. Der exaltierte Türhüter wartete, bis Regent und Ingenieur verschwunden waren, dann verschränkte er die Arme und musterte Delia auf seine übliche, mißbilligende Art. »Du möchtest doch etwas«, sagte er.
Delia merkte, wie sie rot wurde. Der Türhüter hieß Agathon und war ein cleverer Sauertopf, dem nichts enting. Als Sklave hatte er ihrem Bruder Hieron schon lange vor dessen Königszeit gedient. Seine Loyalität hatte ihm einen Einfluß verschafft, um den ihn freie Männer nur beneiden konnten. Leider wußte er schon immer voraus, wann ihn Delia um etwas bitten würde. Obwohl sie diese Eigenart haßte, tolerierte sie sie genau wie Hieron, denn Agathon war immer besser über die Vorgänge in der Stadt informiert als alle anderen Bewohner des Hauses, den König eingeschlossen.
»Ja«, gestand sie. »Dieser junge Mann, der gerade hier war - ich möchte mehr über ihn erfahren.«
Agathons Mißbilligung wurde so drückend, daß man damit Oliven hätte pressen können. »Eine reizende Frage!« rief er. »Die Schwester des Königs möchte Näheres über einen dahergelaufenen, dreisten, jungen Flötenspieler erfahren!«
Delia wedelte ungeduldig mit der Hand. »Beim Herakles, doch nicht so, Agathon!«
»Du, Herrin, hast ganz und gar kein Recht, dich für Ingenieure mit Weinflecken zu interessieren!«
Delia seufzte. »Hieron hätte Interesse, wenn er da wäre.«
Agathon schaute etwas weniger mißbilligend drein und kniff die Augen zusammen. »He?«
»Zwei Sachen«, sagte Delia, nahm ihre Auloi in die Hand und stützte das Kinn darauf. »Erstens: Obwohl er noch nie ein Katapult gebaut hat, hat er selbstbewußt das Angebot gemacht, daß er ein größeres Katapult als alle anderen in der Stadt bauen wird. Glaubst du nicht auch, daß Hieron das interessieren würde?«
»Hm«, machte Agathon, wobei er zum Zeichen seines Zweifels mit den Fingern wackelte. »Dumme, eingebildete junge Männer gibt’s zuhauf.«
»Möglich, aber bevor du mit Vater aufgetaucht bist, hat er genauso selbstbewußt über Katapulte gesprochen wie über Auloi. Und über Auloi weiß er wirklich Bescheid, Agathon. Da macht mir keiner was vor, das mußt selbst du zugeben.«
Читать дальше