»Ist es in der Schlacht passiert?« fragte Philyra.
Marcus schüttelte den Kopf, faltete die letzte Tunika zusammen, legte sie oben auf die anderen und hob den ganzen Stapel auf. »Nur eine Rauferei.«
»Aber du hast doch gekämpft. Schließlich bist du nach einer Schlacht versklavt worden.«
»Ja«, bestätigte er, wobei sich ihre Augen trafen. »Ich war bei einer Schlacht dabei. Wir haben verloren.«
Einen Augenblick hing Philyra stumm ihren Gedanken nach. Gedanken über den Krieg im Norden und die ungewisse Freiheit von Syrakus. Sie schüttelte den Kopf, was Marcus als Zeichen dafür deutete, daß er entlassen war. Mit einem Kopfnicken kletterte er mit seinem sauberen und trockenen Wäscheberg die Treppe hinauf.
Es war schon dämmerig, als Archimedes am Seetor ankam. Selbst wenn der Taraser mit Straton Wache geschoben haben sollte, so hatte er sich inzwischen getrollt, denn Straton lehnte allein an der Innenseite der Stadtmauer. Er hatte sich den Schild halb über die Brust gezwängt, ein Bein gegen den schräggestellten Speer gestützt. Beim Anblick von Archimedes richtete er sich auf und schob den Schild wieder auf den Rücken. »Da bist du ja!« sagte er erleichtert. »Als ich mit deiner Frage die Runde machte, zeigte sich mein Hauptmann interessiert. Seiner Meinung nach werden mehr Ingenieure gebraucht, sowohl bei der Armee wie für die Stadt. Er möchte unbedingt mit dir reden und erwartet uns in der Arethusa. Einverstanden?«
Archimedes blinzelte und dankte innerlich seiner Mutter, daß sie auf dem Mantel bestanden hatte. »F-fein!« stotterte er hastig. Vermutlich hatte Stratons Hauptmann während der Abwesenheit des restlichen Heeres den Oberbefehl über die Garnison von Syrakus. Wenn er wollte, konnte er dafür garantieren, daß man Archimedes eine Stelle anbot.
Die Arethusa entpuppte sich als Wirtshaus auf dem Kap Ortygia ganz in der Nähe der gleichnamigen Süßwasserquelle. Archimedes kannte es nicht. Er hatte sich nur selten auf die Zitadelle gewagt. Aber beim Näherkommen fiel ihm auf, daß es ein ordentliches Wirtshaus war, ein großes Gebäude mit einer Steinfassade, vermutlich ein ehemaliges Wohnhaus der Oberschicht. Sein Aushängeschild verriet künstlerische Ambitionen und stellte die Nymphe Arethusa dar, den Schutzgeist der Quelle und Patronin der Stadt. Anmutig ruhte sie im Schilf mit der Zitadelle Orthygia als Hintergrund. Ein prüfender Blick auf ihre wohlgeformten Rundungen genügte, und Archimedes wußte Bescheid: Dieses Wirtshaus verkaufte nicht nur Essen, sondern sorgte gegen Entgelt auch für weibliche Gesellschaft. Resigniert betastete er die Münzen in seinem Geldbeutel. Dieser Abend würde ganz bestimmt nicht billig werden, und er wußte genau, daß die Rechnung an ihm hängenblieb. Trotzdem durfte er nicht jammern: Nach einem kostenlosen, vergnüglichen Abend würde sich Stratons Hauptmann ihm verpflichtet fühlen.
Mit dem Speer über der Schulter stapfte Straton ins große Wirtszimmer und rief einem unterwürfigen Kellner seinen Namen zu. Nach einem prüfenden Blick auf das Wandgemälde mit dem Kentaurengelage und die ziselierten, silbernen Hängelampen erhöhte Archimedes die zu erwartende Rechnung um drei weitere Oboloi. Mit süffisantem Lächeln dienerte sie der Kellner in eines der separaten Eßzimmer des Wirtshauses. Die einzige Liege hatte bereits ein kleiner, drahtiger Mann Anfang Dreißig in Beschlag genommen, der sich von einem Teller Oliven bediente. Als Archimedes und Straton auftauchten, stand er höflich auf. Straton salutierte, Archimedes streckte seine Hand aus.
Lächelnd schüttelte sie der Hauptmann. »Du bist also der Ingenieur?« fragte er. »Ich bin Dionysios, der Sohn des Chairephon und Hauptmann der Garnison in der Ortygia. Ich habe schon bestellt. Ist dir doch hoffentlich recht?«
Dionysios war unbewaffnet, nur ein roter Offiziersmantel hing über der Rückenlehne der Liege und am Arm ein Schwert in der Scheide. Als Straton verlegen im Türrahmen stehenblieb, grinste ihn sein Vorgesetzter an. »Mann, wir sind doch beide außer Dienst«, sagte er. »Mach’s dir bequem.«
Mit einem erleichterten Seufzer stellte Straton seinen Speer samt Schild an die Wand neben der Tür, ließ sich aufs freie Ende der Liege fallen und löste seinen schweren Brustgürtel. Wieder grinste Dionysios, aber diesmal aus Mitgefühl. Er kannte die langen Stunden des Wachestehens und ihre Folgen nur allzugut: wunde Füßen, steifer Rücken und Langeweile.
Für Archimedes blieb nur noch der unbequemste Platz in der Mitte der Liege zwischen den beiden Soldaten. Er kam sich wie das fünfte Rad am Wagen vor. Mit vielen Verbeugungen nahm der Kellner unterwürfig die Bestellungen auf, dann zog er sich zurück.
»Straton hat mir erzählt, daß du gerade aus Alexandria zurückgekommen bist und dich während des Krieges in die Dienste der Stadt stellen möchtest«, sagte Dionysios.
Archimedes nickte. »Aber«, fügte er verlegen hinzu, »ich habe gemerkt, daß ich nicht einfach nach Messana hinauf kann, um mich der Armee anzuschließen. Als ich heimkam - das heißt, mein Vater liegt im Sterben. Ich kann Syrakus nicht verlassen, bis - du verstehst schon, was ich meine. Wenn es etwas gibt, was ich hier in der Stadt tun könnte.« Unsicher brach er ab, obwohl er sich gar nicht so fühlte. Bisher hatte er seinen Vater die Krankheit allein tragen lassen, aber jetzt würde er bei ihm bleiben, bis zum Ende.
»Aha«, sagte Dionysios, »das tut mir leid.«
»Üble Sache, wenn man so heimkommt«, meinte Straton mitfühlend. »Das und dann noch der Krieg.«
Archimedes gab ein undefinierbares Geräusch von sich, das als Zeichen seiner Zustimmung gedacht war.
Nach einer angemessenen Pause erkundigte sich der Hauptmann nach Alexandria.
Während der Vorspeise unterhielten sie sich über die Stadt: das Museion, die Gelehrten, die Tempel und über die Schönheit der Kurtisanen. Zuerst sagte Straton keinen Ton, die Gegenwart seines kommandierenden Offiziers machte ihn nervös. Aber Dionysios war fröhlich und entspannt, und der Wein floß so reichlich, daß alle drei in kürzester Zeit munter miteinander plauderten. Dionysios schwenkte den duftenden Rotwein in seiner breiten Trinkschale und ließ Ägypten hochleben. »Das Haus der Aphrodite«, sagte er, »so nennt man doch Alexandria, oder? Man sagt, dort findest du alles, was es auf der Welt gibt. Alles, was du dir nur wünschen kannst - Geld, Macht, angenehme Atmosphäre, Ruhm, Wissen, Philosophie, Tempel, einen guten König und Frauen, so schön wie die Göttinnen, die einst zu Paris, dem Sohn des Phamos, kamen, um sich von ihm beurteilen zu lassen. Was gäbe ich, wenn ich dort sein könnte!«
»Es ist das Haus der Musen«, pflichtete Archimedes begeistert bei. »Wie der Stein des Herakles das Eisen anzieht, so zieht diese Stadt die klügsten Köpfe der Welt an. Ich wollte gar nicht wieder fort.«
»Aber du bist nach Syrakus zurückgekehrt. Wegen des Krieges?«
Er nickte. »Und weil mein Vater krank war.«
Wieder herrschte einen Moment lang Stille, aber diesmal war Archimedes klar, daß das mehr am Wort Krieg lag als am Taktgefühl seinem kranken Vater gegenüber. Der Krieg war ein Thema, das die beiden Soldaten schwer beschäftigte, ohne daß sie aber darüber sprechen wollten. Vor zwölf Jahren hatte die römische Republik eine Allianz aus allen Griechenstädten Italiens, einem halben Dutzend aufrührerischer italischer Volksstämme und der königlichen Armee von Epirus jenseits der Adria besiegt. Die Streitkräfte hatten unter dem Kommando des brillanten und kühnen epirischen Königs Pyrrhus gestanden, der als der beste General seiner Zeit galt. Wie sollte Syrakus etwas im Alleingang erreichen, woran eine derartige Allianz gescheitert war? Die einzige Hoffnung auf Sieg lag in einem Bündnis mit Karthago - aber Karthago hatte schon immer nach der Zerstörung von Syrakus regiert. Wie sollte man über diesen Krieg diskutieren? Was gab es noch über einen Konflikt zu sagen, bei dem man seine Feinde den eigenen Verbündeten vorziehen mußte?
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