Er löste den Knoten, der den Truhendeckel sicherte, öffnete den Korb und hob aus einem Strohnest einen Holzzylinder heraus. Er maß ungefähr eine Elle, das heißt, den Abstand vom Ellbogen eines Menschen bis zu seinen Fingerspitzen. Die äußere Schicht bestand aus Holzdauben, die wie bei einem Faß durch Eisenringe zusammengehalten wurden. Im Inneren verbarg sich ein kompliziertes Gebilde, das mit Pech verschmiert war. Am Kernstück des Zylinders war mit einem Bolzen ein Griff befestigt, damit man das Ganze wie ein Rad drehen konnte.
»Normalerweise schöpfen die Ägypter das Wasser mit einer sogenannten Wassertrommel«, sagte Marcus und drehte dabei den Zylinder in den Händen herum. »Eine Art Rad mit acht Eimern daran. Eine große Wassertrommel kann eine Menge Wasser bewegen, ist aber sehr schwer zu drehen. Dafür braucht man mehrere Männer. Mit so etwas hat dein Bruder angefangen, und das ist am Ende dabei herausgekommen. Die richtigen Maschinen, die wir gebaut haben, waren natürlich größer, ungefähr so lang wie ein Mensch, aber sonst waren sie genau wie die hier. Wie du siehst, sind’s auch hier immer noch acht Zuleitungen«, er deutete auf die acht Öffnungen am Zylinderboden, »aber keine Eimer, sondern Röhren.« Er steckte einen Finger hinein, und sie sah, daß es wirklich eine Art Röhre war, die sich um die Spindel herum in die Höhe schraubte. »Diese Röhren winden sich mehrmals im Zylinderinneren herum und kommen hier wieder heraus, an der Oberseite.« Er schlug mit der flachen Hand auf das obere Zylinderende, das genauso aussah wie der Boden. »Jede Einzelröhre erinnert ein bißchen an ein Schneckenhaus, und deshalb heißt das Ding ja auch Schnecke. Sie bestehen aus Weidenstreifen, die mit Pech an die Spindel geklebt und dann ringsum mit Dauben verschlossen werden. Keine Ahnung, wie er den richtigen Spiralwinkel gefunden hat, aber das ist äußerst wichtig. Eine Menge Leute haben versucht, es nachzumachen, und haben’s verpatzt, und dann hat das Ding nicht funktioniert. Also, um es in Gang zu setzen, mußt du.« Marcus sah sich um. Sein Blick fiel auf eine große Wasseramphore in einer Hofecke. Mit der Wasserschnecke unter dem Arm rannte er hinüber, setzte die Maschine auf den Boden, holte den Eimer, den er für sein Bad verwendet hatte, und goß etwas Wasser aus der Amphore in den Eimer. Dann stellte er den Eimer in eine Vertiefung im Hof, sicherte ihn mit Hilfe von ein paar losen Steinen so ab, daß er schräg stand, und stellte dann ein Waschbrett wie eine Plattform davor auf. »Das Ganze muß in einen bestimmten Winkel gebracht werden«, erklärte er Philyra.
»Der exakte Winkel spielt eine wichtige Rolle. Auch das haben die Leute, die es kopiert haben, verpatzt. Wenn der Griff gerade steht, stimmt auch der Winkel.« Er setzte den Fuß der Wasserschnecke in den Wassereimer und das Oberteil auf die Plattform. »Jetzt mußt du nur noch drehen.« Er winkte sie zu sich.
Philyra schob den Saum ihrer Tunika über die Füße zurück und kauerte sich neben ihn. Sie legte eine Hand auf den Zylinder und begann, langsam zu drehen. Das Ding glitt mühelos um seine Spindel. Wasser lief in die Röhren am Fuß der Schnecke. Sie drehte weiter, und auf einmal lief das Wasser zum Kopf der Schnecke heraus. Sachte hielt sie die Maschine in Bewegung und schaute dabei genau zu: Wasser lief hinein, die Röhren hinunter und.
»Es läuft ja bergauf!« rief sie schockiert und riß die Hand von der Maschine, als ob sie sich verbrannt hätte.
Marcus grinste. »Ganz schön schnell!« meinte er. »Die meisten Leute brauchen ein bißchen länger, bis sie’s merken. Einige muß man sogar mit der Nase darauf stoßen. Dabei tut es das gar nicht -nicht wirklich. Schau noch besser hin.«
Wieder drehte Philyra die Maschine. Wasser lief in eine Röhre, und als die Röhre in die Höhe stieg, lief das Wasser hinunter, in die Spirale hinein und mit ihr zusammen nach oben. Sie lachte begeistert.
Marcus grinste. »Den ganzen Weg nach oben läuft es nach unten«, sagte er.
»Manchmal«, sagte Philyra, »kommt mir mein Bruder wie ein Fehler der Natur vor. Er hätte gar nicht als menschliches Wesen geboren werden dürfen. Er sollte sich als dienstbarer Geist in den Werkstätten der Götter herumtreiben. Schätzungsweise ist so eine Wasserschnecke im großen viel leichter zu drehen als eine Wassertrommel, oder?«
»Natürlich«, pflichtete Marcus bei. »Dazu braucht’s keine zwei Männer, ja nicht einmal einen. Das kann ein Kind betreiben, denn man muß ja nur die Schnecke drehen. Das Wasser läuft von selbst bergab.« Mit einem liebevollen Blick auf die Maschine hockte er sich auf die Fersen zurück. »Die Leute sind Schlange gestanden, um sie zu kaufen«, erzählte er. »Wir hätten ein Vermögen machen können!«
»Ich dachte, das habt ihr!« sagte Philyra überrascht. »Innerhalb von zwei Monaten mehr als der Bauernhof meines Vaters in einem Jahr einbringt, hat mein Bruder geasgt.«
Traurig schüttelte Marcus den Kopf. »Achtzehnhundertundacht-zig Drachmen. Genug, um unsere Schulden zu zahlen und ein Jahr angenehm in Alexandria zu leben. Aber wir hatten noch Bestellungen für weitere dreißig Maschinen - achtzig Drachmen das Stück! -und beste Aussichten auf noch viel mehr. Aber er zog es vor, Mathematik zu betreiben.«
Philyra starrte auf die Wasserschnecke und schluckte. Achtzehn-hundertundachtzig Drachmen auf einem Haufen - das überstieg ihre Vorstellung, aber noch weniger konnte sie sich vorstellen, wie man so eine Summe ausgeben konnte. Die Pacht aus dem kleinen Bauernhof der Familie brachte jährlich dreihundert Drachmen ein, inzwischen sogar weniger, weil der Weinberg verkauft worden war. Und Phidias hatte mit seinem Unterricht vielleicht noch einmal soviel verdient. Diese Wasserschlange hatte nicht nur mehr als das Gehalt ihres Vaters verdient, sondern insgesamt dreimal soviel wie das jährliche Einkommen des ganzen Haushaltes. Und das alles hatte Archimedes ausgegeben, bis auf hundert Drachmen.
Marcus verstand, warum sie plötzlich schwieg, und wünschte sich, er hätte den Mund gehalten. Verlegen rutschte er hin und her. »Alexandria ist teuer«, entschuldigte er sich, »und außerdem waren da noch die Schulden und die Kosten für die Rückreise.« Es hatte auch noch eine Frau gegeben, auf deren Konto ein schöner Batzen dieses Geldes gegangen war, aber er hatte nicht die geringste Absicht, der Schwester von Archimedes so etwas zu erzählen. »Dein Bruder war nicht so extravagant, wie’s aussieht«, fügte er statt dessen hinzu. Wenn man die Preise von Alexandria berücksichtigte, ganz zu schweigen vom Preis der besagten Frau, stimmte das auch. »Außerdem sind noch hundertsechzig Drachmen übrig.«
»Hundertsechzig?« fragte Philyra argwöhnisch. »Er hat von hundert gesprochen.«
Marcus zuckte die Schultern und grinste wieder. »Erwartest du wirklich, daß er in Geldsachen auf dem laufenden ist?«
Diesmal lächelte sie nicht, sondern starrte ihn nur kühl und prüfend an. »Das hast du doch für ihn getan, oder?«
Einen Augenblick begriff er nichts, aber dann zog er ein finsteres Gesicht. »Kein einziges Kupferstück habe ich genommen!« erklärte er empört. »Du kannst ihn fragen.«
Während Philyra seine Miene beobachtete, sah sie, wie der Ärger plötzlich in sich zusammenfiel und einer mürrischen Gleichgültigkeit wich. Es war, als ob damit noch etwas anderes versickert wäre - ein Gefühl von Freiheit, ein eigenes Ich. Plötzlich bedauerte sie ihren Argwohn. Und doch - achtzehnhundertundachtzig Drachmen! Sie konnte nicht begreifen, wie sich eine derart riesige Summe einfach in Luft auflösen konnte. Ihr tagträumerischer Bruder war ein leichtes Opfer für jede Art von Betrug.
»Nicht ein Kupferstück habe ich von seinem Geld genommen, nie«, wiederholte Marcus wütend. »Du kannst ihn fragen.«
Verbittert fiel ihm wieder ein, wie er und sein Herr vom Wasserschneckenbau im Delta nach Alexandria zurückgekehrt waren. Kaum hatte das Flußschiff angelegt, war Archimedes heruntergehüpft und hatte sich sofort Richtung Museion getrollt. Es blieb Marcus überlassen, das Gepäck in ihre Unterkunft zu schaffen. Das Gepäck - und die Schatulle mit den achtzehnhundertundachtzig Drachmen. Eine Menge Geld. Davon hätte sich Marcus gut eine Schiffspassage zurück nach Italien leisten können und dort dann obendrein noch ein Paar Ochsen, einige Schafe und ein Jahr Pacht für einen kleinen Bauernhof. Wie er so mit der schweren Truhe dahingetrottet war, war ihm schmerzhaft bewußt geworden, wie einfach eine Flucht wäre. Und dabei hätte er seinen Herrn nicht einmal mittellos zurückgelassen, denn Archimedes hätte jederzeit zurückgehen und noch ein paar Wasserschnecken bauen können. Letztendlich hatte ihn aber nicht seine Ehrlichkeit zurückgehalten, auf die er sich immer soviel eingebildet hatte, sondern pure Verzweiflung. Die Ereignisse, die ihn zum Sklaven gemacht hatten - die verlorene Schlacht, die toten Männer -, waren immer noch lebendig und ließen sich nie mehr auslöschen. Er konnte nicht mehr nach Hause, und irgendwoanders hinzugehen, schien ihm wenig sinnvoll. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Sklaverei immer als einen Zustand betrachtet, der ihm gegen seine wahre Natur auferlegt worden war, aber nun zeigte sie plötzlich ihr wahres Gesicht: die unausweichliche Bedingung, an die er sein Leben geknüpft hatte.
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