Und genau in diesem Augenblick sah Lanferelle das Schwert. Es war nur ein kurzes und klobiges Schwert, ein billiges Schwert, und es drehte sich in der Luft um sich selbst, und einen Herzschlag lang glaubte er, es sei auf ihn geschleudert worden, um ihn zu verletzen, bevor ihm klarwurde, dass es ihm zugeworfen worden war. Die Klinge wirbelte über die Schulter des großgewachsenen Bogenschützen, und Lanferelle schnappte danach und erwischte irgendwie den Griff, doch die Axt fuhr schon nieder, getrieben von den gewaltigen Kräften des Bogenschützen, und Lanferelle blieb keine Zeit zur Abwehr, sodass er sich nur mit seinem gesamten Gewicht nach vorn gegen den Bogenschützen werfen konnte. Der Schaft der Kampfaxt traf seinen linken Arm, und Lanferelle hob das Schwert, doch in dem Hieb, der in der Pfeiltasche des Bogenschützen endete, steckte keine Kraft. Einer der anderen Bogenschützen holte mit seiner Kampfaxt aus, doch nun hatte sich Lanferelle gefangen und wehrte den Hieb mit seiner Klinge ab, indem er dem Mann mit unfassbarer Geschwindigkeit sein Schwert durchs Gesicht zog. Der Mann taumelte weg. Blut floss aus seiner zertrümmerten Nase und der aufgeschlitzten Wange, und schon war Lanferelle einen Schritt zurückgetreten und hatte das Schwert gehoben, um gegen den großgewachsenen Bogenschützen zu kämpfen.
Drei Bogenschützen standen nun vor Lanferelle, doch zwei von ihnen besaß keinen Mut, um gegen ihn anzutreten, sodass der großgewachsene Mann auf sich allein gestellt war. Der Bogenschütze drehte sich um und sah Hook herankommen. «Bastard», zischte er ihn an, «du hast ihm dieses Schwert zugeworfen!»
«Er ist mein Gefangener», sagte Hook.
«Und der König hat befohlen, die Gefangenen zu töten!»
«Dann töte ihn, Tom», sagte Hook belustigt. «Töte ihn doch!»
Tom Perrill sah wieder den Franzosen an. Er entdeckte einen tödlichen Blick in Lanferelles Augen, dachte an die Geschwindigkeit, mit der dieser Mann ausweichen und Hiebe abwehren konnte, und senkte seine Kampfaxt. «Du tötest ihn, Hook», sagte er höhnisch.
«Mylord», sprach Hook Lanferelle an, «diesem Mann wurde Geld geboten, um Eure Tochter zu schänden. Er ist mit diesem Vorhaben gescheitert, doch solange er am Leben ist, schwebt Melisande in Gefahr.»
«Dann töte ihn», sagte Lanferelle.
«Ich habe Gott versprochen, es nicht zu tun.»
«Aber ich habe Gott nichts dergleichen versprochen», sagte Lanferelle und ließ das billige Schwert gegen Tom Perrill vorzucken, sodass der Bogenschütze zurückweichen musste. Perrill sah Hook mit aufgerissenen Augen an, ohne seine Angst und sein Erstaunen verbergen zu können. Dann wandte er sich wieder Lanferelle zu, auf dessen Gesicht ein Lächeln lag. Das Schwert des Franzosen war kümmerlich und schlecht gearbeitet, die Kampfaxt war die bei weitem überlegene Waffe, dennoch trat Lanferelle mit heiterer Zuversicht einen Schritt auf Tom Perrill zu.
«Tötet ihn!», rief Perrill seinen Gefährten zu, doch keiner von ihnen rührte sich, und Perrill rammte sein Axt mit einer verzweifelten Bewegung gegen Lanferelles Zwerchfell vor, und der Franzose wich der Waffe mit verächtlicher Leichtigkeit aus, hob dann einfach das Schwert und stieß ein einziges Mal zu.
Die Klinge glitt in Perrills Schlund, aus dem sofort ein Schwall Blut brach. Reglos starrte der Bogenschütze den Mann an, der ihn tötete. Lautlos und dickflüssig rann das Blut an der Schwertklinge hinab und lief über Lanferelles unbehandschuhte Hand. Einen Augenblick oder zwei blieben beide Männer wie erstarrt voreinander, dann brach Perrill zusammen, Lanferelle zog die Klinge aus seinem Mund und warf Hook das Schwert zu.
«Genug! Genug!» Ein Feldkämpfer im Wappenrock des Königs ritt hinter der englischen Kampflinie entlang, um den Bogenschützen den neuen Befehl zuzurufen. «Genug! Hört mit dem Töten auf! Halt! Genug!»
Hook ging zur englischen Linie zurück.
Er sah graue Wolken, die sich über dem Feld von Azincourt ballten. Und er sah vor der englischen Armee einen wahren Totenacker. Es waren mehr Tote, dachte Hook, als sein König eigene Männer auf dieses durchweichte Schlachtfeld geführt hatte. Die unzähligen Gefallenen lagen umschlungen in ihrem grausigen Sterben, hingestreckt und blutüberströmt, Körper in Rüstungen, aufgerissen, durchbohrt und zermalmt. Da waren Männer und Pferde. Da waren aufgegebene Waffen, gestürzte Flaggen und gestorbene Hoffnungen. Ein Feld, gepflügt für Winterweizen, hatte eine Bluternte eingebracht.
Und am Ende dieses Feldes, hinter den Toten, hinter den Sterbenden und den Klagenden, zog sich die dritte französische Kampfeinheit zurück.
Die versammelte Macht Frankreichs zog sich zurück. Die Männer wandten sich nach Norden, ließen Azincourt hinter sich, ritten, um der lachhaft kleinen Armee zu entkommen, die ihre Welt in Grauen verwandelt hatte.
Es war vorbei.
*
***
*****
***
*
Es war ein kalter, klarer Novembertag, erfüllt vom Läuten der Kirchenglocken, von Jubel und Gesang. Noch nie hatte Hook solche Menschenmengen gesehen. London feierte seinen König und seinen Sieg. Die Wassertürme waren mit Wein gefüllt worden, Scheinkastelle standen an den Straßenecken, und Chöre von Jungen im Engelskostüm, als Propheten verkleidete alte Männer und Mädchen im Jungfrauengewand sangen Lobeshymnen. Mitten hindurch ritt der König in bescheidener Kleidung, ohne Krone und ohne Zepter. Die edelsten der französischen Gefangenen folgten dem König: Charles Duc d'Orleans, der Duc de Bourbon, der Marschall von Frankreich, weitere Ducs und zahllose Grafen waren dem gutmütigen Gejohle der Menge ausgesetzt. Kleine Jungen rannten neben den Pferden der Bogenschützen her, die zur Bewachung an der Seite der Gefangenen ritten, und berührten die Bögen in ihren Hüllen und die Schwerter in den Scheiden. «Warst du dort?», fragten sie, «Warst du dort?»
«Ich war dort», antwortete Hook, doch dann entfernte er sich von dem Zug und dem Jubel und dem Gesang und den flatternden weißen Tauben.
Er war mit vier Begleitern in die Sträßchen nördlich von Cheapside geritten. Pater Christopher führte sie an, lenkte die Gruppe in schmalere und noch schmalere Gassen, in Gassen, die so eng waren, dass sie hintereinander reiten und sich ducken mussten, um nicht mit dem Kopf an die überhängenden oberen Geschosse der Fachwerkhäuser zu stoßen. Hook trug die Stiefel eines toten Grafen von Azincourt, zwei Paar Kniehosen, ein Kettenhemd, eine gepolsterte Jacke, um sich warm zu halten, und darüber einen neuen Wappenrock, auf dem Sir Johns stolzer Löwe prangte. Um seinen Hals hing eine goldene Kette, an der sein Rang abzulesen war: Centenar bei Sir John Cornewaille. Sein Helm aus Mailänder Stahl, der nur eine leichte Schramme von einem Axthieb davongetragen hatte, hing an seinem Sattelknauf. Sein Schwert war in Bordeaux gefertigt worden. In das Heft war ein Pferd eingraviert, das Wappentier des Franzosen, dem sowohl das Schwert als auch der Helm gehört hatten. «Ich war dort», sagte er zu einem kleinen, zerlumpten Jungen. «Wir alle waren dort», fügte er hinzu. Dann folgte er Pater Christopher weiter um eine Ecke, duckte sich unter den Zweigen eines Busches hindurch, dem Zeichen einer Weinschenke, und erreichte einen kleinen Platz, auf dem es nach der Jauche stank, die durch die Gosse abfloss. An der Nordseite des Platzes stand eine Kirche. Es war eine erbärmliche Kirche. Ihre Wände bestanden aus Flechtwerk und Lehm, und das jämmerliche Ding, das hier wohl als Turm galt, war aus Holz. Eine einzige Glocke hing in dem Turm. Sie wurde geläutet, sodass sich ihr durch einen Riss scheppernder Klang mit der Kakophonie vermischen konnte, mit der die Engländer ihren Sieg feierten. «Das ist sie», sagte Pater Christopher und deutete auf die Kirche.
Читать дальше