Wilkie Collins - Namenlos
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Wilkie Collins
Namenlos
Erstes Buch
Auf Combe-Raven in Somersetshire
Erstes Capitel
Die Zeiger der Uhr im der Hausflur zeigten auf halb Sieben früh. Das Haus war ein Landsitz in West-Somesetshire, welcher Combe-Raven (Rabenschlucht) hieß. Der Tag war der vierte März, das Jahr achtzehn hundert und sechs und vierzig.
Kein Ton außer dem einförmigen Tik-tak der Uhr und dem dummen Schnarchen eines großen Hundes, der auf einer Matte vor der Thür des Speisesaales lag, störte die geheimnißvolle Morgenstille der Flur und der Treppe. Wer waren die Schläfer dort oben in den höheren Regionen des Hauses? – Mag denn das Haus seine Geheimnisse selbst entschleiern, und Einer nach dem Andern, wie sie von ihren Schlafgemächern die Treppe heruntersteigen, mögen die Schläfer sich selber vorführen.
Wie die Uhr ein Viertel vor Sieben zeigte, erwachte der Hund und schüttelte sich. Nachdem das Thier vergeblich auf den Bedienten gewartet, von dem es gewohnt war hinausgelassen zu werden, lief es auf den Hausflur unruhig von einer verschlossenen Thür zur andern, kehrte dann in großer Verlegenheit zu seiner Matte zurück und machte sich der schlafenden Familie durch ein langes klägliches Geheul bemerklich.
Bevor die letzten Töne seiner Klage verhallten, knarrte die eichene Treppe in den oberen Regionen des Hauses unter den Tritten einer langsam herabsteigenden Person.
Eine Minute später wurde die erste der Dienerinnen sichtbar, einen dunkelbraunen Wollenshawl um die Schultern; denn der Märzmorgen war nicht eben sonnig, und Rheumatismus war für die Köchin ein alter Bekannter.
Die Köchin nahm das erste schmeichelnde Endgegenwedeln des Hundes so unfreundlich als möglich auf, öffnete langsam die Hausthür und ließ das Thier hinaus. Es war ein stürmischer Morgen. Ueber einem freien Platze und hinter einer Nadelholzpflanzung bahnte sich die aufgehende Sonne ihren Weg durch Haufen zerrissener grauer Wolken; schwere Regentropfen fielen da und dort einzeln nieder; der Märzwind sauste um die Ecken des Hauses, und die nassen Bäume schwankten träge hin und her.
Jetzt schlägt es sieben Uhr; und nun folgen die Zeichen des erwachenden Lebens im Hause schneller aufeinander.
Die Hausmagd kommt herunter, ein langes, schmächtiges Mädchen, dem die Frühjahrestemperatur roth an der Nase geschrieben steht. Das Kammermädchen folgt, ein junges, pfiffiges, pralles, aber noch etwas verschlafenes Kind. Die nächste ist die Küchenmagd, geplagt mit Kopfreißen und daraus kein Hehl machend. Der Letzte von Allen ist der Bediente, der ganz erbärmlich gähnend zum Vorschein kommt; das lebendige Conterfei eines Menschen der fühlt, wie er um seine süße Nachtruhe betrogen worden ist.
Die Unterhaltung der Dienerschaft, wie sie vor dem nach und nach ins Brennen kommenden Küchenfeuer beisammen war, bezog sich auf ein jüngstes Familienereigniß und blieb bei der Frage stehen: Hat Thomas, der Bediente; etwas von dem Concert zu Cliston gesehen, bei welchem den Abend vorher sein Herr und die beiden jungen Töchter des Hauses zugegen waren?
– Ja.
Thomas hatte das Concert gehört; er hatte Geld erhalten, um auf einen der hinteren Plätze zu gehen.
Es war ein lautes Concert. Es war ein heißes Concert. Es war an der Spitze der Programme als ein »großes Concert« beschrieben.
Ob es sich nun wirklich verlohnte, um es zu hören, sechzehn englische Meilen auf der Eisenbahn zu reisen mit der sich daran knüpfenden Verschärfung, auf der Rückfahrt halb zwei Uhr Morgens neunzehn Meilen auf der Landstraße zu machen: Das war eine Frage, welche er seinem Herrn und den jungen Fräulein zur Entscheidung überlassen wollte. Seine eigene Meinung wäre mittlerweile, ohne daß er sich einen Augenblick zu bedenken brauche:
Nein.
Weitere Fragen, welche seitens aller weiblichen Dienstleute der Reihe nach an ihn gerichtet wurden, brachten keine andere Mittheilung irgend welcher Art aus ihm heraus.
Thomas konnte keines von den Liedern nachsingen, eben sowenig eines von den Kleidern der Damen beschreiben.
Seine Zuhörer gaben ihn daher hoffnungslos auf, und das Küchengeplauder wandte sich wieder seinen gewöhnlichen Unterhaltungsstoffen zu, bis die Uhr Acht schlug und die versammelte Dienerschaft in Bewegung gerieth und sich trennte, indem Jedes an seine Morgenverrichtung ging.
Ein viertel nach acht – und nichts rührte sich. Jetzt schlug es halb – und schon machten sich mehr Lebenszeichen in der Gegend der Schlafgemächer hörbar.
Das nächste Familienglied, das die Treppe herunter kam, war Mr. Andreas Vanstone, der Herr vom Hause.
Ein Mann, groß, stark und von gerader Haltung, mit hellen blauen Augen und gesunder blühender Gesichtsfarbe, sein Jagdkoller von braunem Plüsch nachlässig und verkehrt zugeknöpft, sein kläffender kleiner schottischer Dachshund hinter ihm her bellend, ohne von ihm zur Ruhe verwiesen zu werden; wie er die eine Hand in der Westentasche, mit der andern fröhlich wie im Tacte auf das Treppengeländer schlagend, dabei ein Liedchen summend, die Treppe hernieder stieg: so zeigte Mr. Vanstone schon im Aeußern seinen Charakter offen für Jedermann erkennbar. Ein ruhiger, gemüthlicher, hübscher, launiger Gentleman, welcher auf des Lebens Sonnenseite seinen Weg zu wandeln hatte und der Nichts mehr wünschte, als daß er den Genossen seiner irdischen Pilgerfahrt ebenfalls auf der Sonnenseite begegnen möchte. Wenn man ihn nach den Jahren schätzte, So war er über die Fünfzig hinaus. Beurtheilte man ihn nach seinem allezeit leichten Herzen, nach seinem starken Körper und seiner Lebenslust, so war er eigentlich nicht älter als die meisten Männer, die erst über die Dreißig hinaus sind.
– Thomas! rief Mr. Vanstone und nahm seinen alten Filzhut und seinen dicken Ausgehstock von dem Tische in der Flur. Das Frühstück heute um Zehn. Die jungen Damen werden nach dem Concert von gestern Abend schwerlich früher herunterkommen. – Uebrigens wie gefiel denn Dir das Concert, Dir selbst, he? Du meinst, es war »groß?« Ganz recht. Das war es. Nichts als Getöse abwechselnd mit Gelärm; all die Frauen herausgeputzt, wie es nur menschenmöglich war; erstickende Hitze, blendendes Gaslicht und nirgends mehr Platz für einen Menschen! Ja, ja, Thomas, »groß« ist das rechte Wort für das Alles, angenehm und gemüthlich gewiß nicht. – Nach diesem Bekenntniß seiner Meinung pfiff Mr. Vanstone seinem Dachsköter, schwenkte den Stock in der Hausthür in lustiger Verachtung des Regens und machte sich durch Wind und Wetter auf, um seinen Morgenspaziergang anzutreten.
Die Zeiger, die unvermerkt. ihren stetigen Weg um das Zifferblatt der Uhr beschrieben, zeigten nun auf zehn Minuten vor Neun. Ein anderes Mitglied der Familie wurde jetzt auf der Treppe sichtbar, Miss Garth, die Gouvernante.
Einem aufmerksamen Auge konnte es nimmermehr entgehen, daß sie eine Dame aus dem Norden war. Ihre hart gezeichnete Physiognomie, die männliche Gewandtheit und Bestimmtheit in allen ihren Bewegungen; ihre fortwährende Ehrbarkeit in Blick und Haltung: Alles verrieth ihre Abstammung und Erziehung an der Nordgrenze. Obschon wenig älter als vierzig Jahre hatte sie doch schon ganz weißes Haar und trug über demselben die schlichte Haube einer alten Frau. Weder ihr Haar noch ihr Kopfputz standen mit ihrem Gesichte im Widerspruche: letzteres sah älter aus, als sie war. Die schwere Schrift des Kummers hatte es in vergangener Zeit tief durchfurcht. Das Selbstbewußtsein ihres Schrittes die Treppe herab, der zu befehlen gewohnte Blick, mit dem sie sich umschaute, sprachen deutlich genug von ihrer Stellung in Mr. Vanstones Familie. Dies war ersichtlich keine von der verlassenen, verfolgten, demüthiglich abhängigen Classe der Gouvernanten. Hier hatte man eine Frau vor sich, die in sicherer und ehrenvoller Stellung bei ihrer Herrschaft lebte, eine Frau, welcher man es ansah, daß sie im Stande war, jegliche Aeltern in England energisch zurechtzuweisen, wenn dieselben sie etwa unter ihrem Werthe schätzen sollten.
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