Es blieb nur eine Wahl und Royce hatte sie für seine Freunde getroffen. Ohne zu zögern, stieß er Bolis und Mark über den Rand. Mathilde sah so aus, als würde sie lieber bleiben wollen, doch Neave zerrte sie über die Reling. Gwylim wirkte furchtlos. Der Bhargir brüllte laut auf, bevor er sich hinabstürzte. Jetzt gab es nur noch eine Sache zu tun. Royce klettere auf die Reling und blickte hinab auf die schäumenden, tosenden Fluten. Er schob das Kristallschwert in seine Halterung, hoffte, dass die Rüstung, die er im Turm gefunden hatte, so leicht war, wie sie sich anfühlte…
…und sprang.
Raymond stand mit seinen Brüdern an einer Kreuzung, direkt an der Grenze zum Land des ehemaligen Herzoges. Er wusste, dass er voranschreiten sollte, und war doch noch nicht bereit, sich von den anderen zu trennen. Bald würden Lofen, Garet und er sich auf den Weg machen müssen, um alle Dinge einzuleiten, die Royce für seinen Feldzug brauchte; die sie alle brauchten.
„Aufgeregt?“, fragte er die anderen.
„Natürlich nicht“, sagte Lofen, der immer am tapfersten sein musste. Lofen war immer bereit für den Kampf und vielleicht würde ihm das bei der Suche nach den Picti helfen. Und doch ertappte sich Raymond bei dem Gedanken, dass sein Bruder wohl bessere Chancen hätte, würde er über mehr als nur eine Karte und eine ungefähre Ahnung verfügen.
„Ich werden tun, was getan werden muss“, sagte Garet, der natürlich genauso mutig wie seine Brüder wirken wollte. Raymond wollte ihm sagen, dass er wusste wie tapfer Garet war—er hatte gesehen, wie stark die andere gewesen waren, als man sie in Altfors Verlies gefangen gehalten hatte. „Ich bin der Fahnenträger für unsere Sache.“
„Ich finde diejenigen, die euch helfen können“, sagte Moira, deren Pferd neben Garets wartete. Raymond war sich nicht sicher, was er von ihrer Anwesenheit halten sollte. Die Tatsache, dass sie eine Adelige war, würde dabei helfen, andere Adelige auf ihre Seite zu holen, und sie hatte sich freiwillig gemeldet. Doch Raymond sah bereits, welche Blicke ihr Garet zuwarf und er wusste genau, dass es kompliziert werden würde.
„Pass auf dich auf“, sagte Raymond zu seinem jüngsten Bruder. Nun richtete er sich an Moira. Man konnte nicht verleugnen, dass sie wunderschön war, und er würde sie nicht dafür verurteilen, dass die Adeligen sie damals gestohlen hatten. Trotzdem war ihm nicht ganz wohl bei der Art, mit der sie sich freiwillig gemeldet hatte. „Pass du auf ihn auf.“
„Ich bin kein Kind“, mischte sich Garet ein. „Ich bin ein Mann und ich werde die Sache erledigen wie ein Mann.“
„Nur bis du die richtigen Leute gefunden hast“, sagte Raymond.
„Ich habe die einfachste Aufgabe“, beschwichtigte ihn Garet. „Du bist derjenige, der die Bauern dazu bringen muss, sich zur Wehr zu setzen.“
Raymond nickte. „Sie werden sich zur Wehr setzen. Sie werden es für Royce tun.“
Er hatte gesehen, wie sein Bruder die Leute dazu gebracht hatte zu kämpfen und wie Royce die gefährlichsten Gegner besiegt hatte. Die Menschen würden sich in Royces Namen erheben.
„Dann wird es Zeit für ein Lebewohl“, sagte Lofen. In seinen Worten hörte man keine großen Emotionen, doch Raymond wusste, dass sie unter der Oberfläche brodelten. Raymond hoffte nur, dass sein Bruder eine gefühlvollere Bitte hervorbringen würde, sobald er die Picti überzeugen musste. Er hoffte auch, dass sein Bruder sicher sein würde, denn sie alle hatten gesehen, zu was die wilden Stämme in den Bergen im Stande waren.
„Ich hoffe auf ein baldiges Wiedersehen“, sagte Raymond. „Denkt einfach daran—“
„Bringt sie zu Graf Undines Schluss, nicht zu dem des alten Herzogs“, sagte Lofen. „Wir wissen Bescheid. Schließlich hast du es uns auf dem Weg hierher schon oft genug gesagt.“
„Ich wollte sagen, denkt daran, dass ich euch beide liebe, meine Brüder“, sagte Raymond. „Selbst wenn du, Lofen, ein Idiot bist und Garet noch grün hinter den Ohren ist.“
„Zumindest sind wir keine brütende Henne, die alle gackernd bemuttern möchte“, schoss Garet zurück. Er zog sein Pferd an den Zügeln und galoppierte vorwärts. „Wir sehen uns bald, Bruder, mit einer Armee!
„Ich sorge für seine Sicherheit“, sagte Moira und drehte ihr Pferd so, dass es Garet folgen konnte.
„Halte dein Wort“, rief ihr Raymond nach.
„Du bist ganz schön streng mit ihr“, sagte Lofen, als die beiden sich entfernten.
„Mir macht eher Sorge, dass Garet so sanft mit ihr ist“, erwiderte Raymond.
Er sah, wie sein Bruder mit den Schultern zuckte. „So hat er zumindest eine schöne Frau bei sich, die die Adeligen bereits kennt. Warum Neave nicht mit mir mitkommen konnte…“
Raymond lachte darüber. „Denkst du, sie wäre an dir interessiert? Du hast sie doch auch mit Mathilde gesehen. Abgesehen davon werden die Picti leichter zu finden sein. Marschiere einfach durch die Wildnis, bis dir einer etwas nachschießt.“
Lofen musste schlucken. „Jetzt lachst du noch, aber du wirst dich richtig schlechtfühlen, wenn ich mit lauter Pfeilen in der Brust zurückkomme. Aber ich werde es machen und komme zurück mit meiner eigenen Truppe. Ich bin gespannt, wie es den Leuten gefallen wird, gegen das wilde Volk anzukämpfen.“
Er drehte sich um und ritt in die Richtung, in der er die Ländereien der Picti erahnte. Raymond blieb alleine auf der Kreuzung zurück. Im Vergleich zu seinen Brüdern schien es ihm, als hätte er die einfachste Aufgabe: Er musste nur die Menschen für seine Sache überzeugen, die sich bereits von dem Königreich gelöst hatten. Nachdem sie so viele Jahre von den Adeligen misshandelt worden waren, die unter der Führung von König Carris standen, sollten der Funke seiner Worte bereits ausreichen, um das Feuer in ihnen zu entfachen.
Und trotzdem wünschte er sich, seine Brüder an seiner Seite zu haben, als er sein Pferd in Richtung des nächsten Dorfes ausrichtete und losgaloppierte.
* * *
Das erste Dorf war so klein, dass es auf den meisten Landkarten wahrscheinlich gar nicht angeschrieben war. Es trug den Namen Byesby und bestand aus wenigen Häusern. Es war kaum mehr als ein besserer Landhof und verfügte nicht einmal über ein Gasthaus, in dem er die Anwohner versammeln konnte. Aber immerhin gab es keine Wächter in der Umgebung, die einem lokalen Herrscher dienten und ihn dabei aufhalten würden, Raymonds Nachricht an die Menschen weiterzugeben.
Er ritt zum Zentrum des Platzes, der durch einen niedrigen Holzpfahl für Nachrichten markiert war und neben einem sanierungsbedürftigen Brunnen stand. Auf der Straße sah er ein paar Menschen beim Arbeiten und ein paar weitere kamen aus ihren Häusern, als sie Raymond auf seinem Pferd erspähten. Hier sah man wohl nur selten Männer in Rüstungen. Vielleicht dachten sie sogar, dass er von einem der Adeligen gesandt wurde, um das Dorf für sich zu beanstanden.
„Hört mir zu“, rief Raymond vom Rücken seines Pferdes. „Versammelt euch alle!“
Langsam kamen immer mehr Leute dazu. Raymond hatte schon deutlich mehr Menschen in Schlachten geführt, doch als sich die Menge langsam versammelte, wurde ihm klar, dass er noch nie vor so vielen gesprochen hatte. Jetzt fühlten sich sein Mund trocken und seine Hände feucht am.
„Wer bist du?“, forderte ihn ein Mann auf, der kräftig genug wirkte, um ein Hufschmied zu sein. „Wir haben keine Zeit für Räuber und Banditen.“
Er hievte einen Hammer hoch, um klarzustellen, dass sie nicht wehrlos waren.
„Das ist gut, denn die habe ich auch nicht!“, rief Raymond zurück. „Ich bin hier, um euch zu helfen.“
„Falls du nicht vorhast, uns bei der Ernte behilflich zu sein, wüsste ich nicht, wie du helfen kannst“, sagte ein anderer Mann.
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