„Und warum soll das so sein?“, forderte ihn ein Mann aus der raunenden Menge heraus. Raymond spürte bereits, wie sich die Situation zu wiederholen begann.
„Weil wir diesmal wirklich etwas verändern können. Weil es kein Streit zwischen Adeligen ist, sondern die Chance, eine Welt zu erschaffen, in der die Adeligen nicht mehr an der Macht sind und uns unterdrücken. Weil Menschen wie ihr denjenigen, die diesen Kampf begonnen haben, nicht egal seid. Menschen wie wir alle.“
„Ach ja?“, fragte der Mann. „Nun dann, Fremder, wer bist du und woher weißt du so viel darüber?“
Raymond holte tief Luft und wusste, dass er sich in diesem Moment entscheiden musste, ob er es tun wollte oder nicht. Sobald er seine Wahl getroffen hatte, konnte er sie nicht mehr rückgängig machen.
„Na komm“, verlangte der Mann. „Wie kommst du dazu zu behaupten, ein Adeliger aus der Ferne würde sich um uns scheren?“
„Das ist einfach“, sagte Raymond und dieses Mal schallte seine Stimme so laut über das Dorf, dass ihn jeder hören konnte. „Mein Name ist Royce und ich bin der Sohn von König Philip, dem wahren und rechtmäßigen König dieses Landes!“
Royce kämpfte sich durch einen Wald und die Bäume begannen immer mehr ineinander zu verschwimmen, sodass es unmöglich war, einen Weg zu erkennen. Er hatte sich verlaufen und wusste genau, dass es den sicheren Tod bedeutete, hier verloren zu gehen.
Er schritt vorwärts, denn er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Die Bäume um ihn wurden immer enger. Ihre Äste peitschten in einem Wind, den er nicht spüren konnte und schlugen auf Royce ein. Sie zerkratzen seine Haut und nun folgten Äste, die mit Dornen bestückt waren und sich in seinem Fleisch vergruben. Er musste all seine Kraft zusammennehmen, um weiterzukommen.
Warum wollte er eigentlich weiter? Er wusste nicht, wo er war, also warum sollte er sich weiter durch die Dunkelheit und die Unsicherheit des Waldes drängen? Seine Energie ließ nach, also warum sollte er sich nicht auf einem der Baumstämme niederlassen und sich ausruhen, bis—
„Wenn du stehen bleibst, stirbst du, Sohn.“ Die Stimme kam durch die Bäume und obwohl er sie nur in seinen Träumen gehört hatte, erkannte Royce sie sofort als die seines Vaters. Er drehte sich zur Stimme und folgte ihr.
„Vater, wo bist du?“, rief er und kämpfte sich weiter in die Richtung, aus der sie zu kommen schien.
Der Weg war hier noch härter. Es lagen umgefallene Bäume auf dem Boden und Royce fand es bei jedem Mal schwieriger, über sie zu springen. Aus dem Waldboden ragten Felsen heraus und nun musste er genauso viel klettern wie rennen, um sie zu überwinden. Die Strecke, die vor ihm lag, ließ sich nicht vom restlichen Wald unterscheiden und die Unwissenheit darüber, was dahinterlag, brachte Royce zur Verzweiflung.
Dann endlich sah er den weißen Hirsch, der ihn erwartungsvoll ansah und wartete. Mit derselben unerklärlichen Gewissheit, die er vorher schon gespürt hatte, wusste Royce, dass ihm das Tier den Weg zeigen würde. Er drehte sich um und folgte ihm.
Der weiße Hirsch war schnell und Royce musste seine ganze Kraft sammeln, um ihn nicht zu verlieren. Es fühlte sich an, als würden seinen Lungen explodieren und seinen Glieder von innen brennen. Doch er lief immer weiter durch das peitschende Geäst, bis er einen Platz erreichte, an dem der weiße Hirsch verschwand und durch eine Figur in einer Rüstung ersetzt wurde, die von weißem Licht umrandet war.
„Vater“, keuchte Royce. Es fühlte sich, als hätte er keinen Atem und keine Zeit mehr.
Sein Vater nickte und lächelte, dann deutete er aus unerfindlichem Grund empor. „Du musst jetzt gehen, Royce. Kämpfe, kämpfe dich zum Licht.“
Als er nach oben blickte, sah Royce ein Licht über sich und als er versuchte zu tun, was sein Vater ihm gesagt hatte, wurde es größer und größer…
* * *
Royce kam mit einem hustenden Atemzug zu sich, der gleichermaßen aus Wasser und Luft bestand. Er erbrach das Meerwasser und begann sich aufzurappeln, doch ein paar vorsichtige Hände hielten ihn davon ab. Royce kämpfte einen Moment lang dagegen an, bevor ihm klar wurde, dass Mark an seiner Seite war und seine Hände das Wasser aus Royce Magen pumpten.
„Vorsichtig“, sagte sein Freund. „Du wirst das Floß zum Kippen bringen.“
Das „Floß“, von dem die Rede war, bestand aus einem Teil des Schiffsmasts, der im Chaos abgebrochen war und sich mit anderen Stücken Treibholz verwickelt hatte. Nun bildete er eine Art schwimmende Plattform, die in den Wellen aufgetrieben wurde.
Bolis, Neave und Mathilde knieten auf dem provisorischen Schiff, während Gwylim in etwas Entfernung am Rand lag und Ember über ihnen flog. Mathilde hatte eine offene Wunde an ihrer Seite, die von einem Messer oder einem Stück Holz stammen konnte. Das Blut lief ins Wasser, während Neave sie versorgte und Stücke des zerrissenen Segels zu Verbänden schnitt. Sir Bolis war damit beschäftigt, hastig ein Stück Metall an einem passenden Holz zu befestigen und eine einfache Harpune zu bauen. Von seiner eigenen Rüstung und seinen Waffen fehlte jede Spur.
Royce blickte schnell an sich herab und sah, dass er das Kristallschwert immer noch bei sich hatte, während er auch noch die Rüstung trug, die er aus dem Turm von Graf Undine genommen hatte.
„Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, darin zu schwimmen“, sagte Mark, „aber du hast es geschafft. Du bist wie ein Korken herausgeploppt und ich konnte dich herausziehen.“
„Danke“, sagte Royce und streckte seinem Freund die Hand entgegen.
Mark drückte sie fest. „Nach den unzähligen Malen, bei denen du mich gerettet hast, brauchst du dich nicht zu bedanken. Ich bin nur froh, dass du überlebt hast.“
„Zumindest bisher“, sagte Bolis vom Bug ihres notdürftigen Floßes aus. „Wir sind immer noch in Gefahr.“
Royce sah sich um und versuchte zu erkennen, was außerhalb des Floßes geschehen war. Er konnte sehen, dass sie wieder aufs Meer zurückgewaschen worden waren, sodass die Sieben Inseln erneut nur als kleiner Punkt in der Ferne erschienen. Der Ozean brodelte, als würde ein Sturm aufkommen. Ihr Floß knarrte unter den Strapazen.
„Vergiss den Speer“, sagte Royce. „Wir müssen uns darauf konzentrieren, das Floß zusammenzubinden.“
„Du hast das menschenfressende Monster nicht gesehen“, sagte Bolis. „Es muss so ziemlich jeden Seemann umgebracht haben, der im Schiffswrack gefangen war. Dieser Seeschlange will ich nicht unbewaffnet begegnen.“
„Und willst du ihr im Wasser begegnen, wenn unser Floß zerfällt und absinkt?“, erwiderte Royce. Er hatte die Kreatur gesehen, vor der Bolis Angst hatte, und wusste wie gefährlich sie war, doch in diesem Moment könnte sie der Ozean genauso gut umbringen.
An den Masten waren Seile befestigt und Royce deutete auf eines von ihnen. „Jeder schnappt sich ein Stück Seil, das noch nicht mit anderen Dingen verworren ist, und bindet damit das Floß zusammen. Das ist unsere Priorität, dann paddelt solange, bis wir an Land sind, dann kommen die Waffen.“
„Das sagst du so leicht“, beschwerte sich Bolis, doch er folgte seinen Anweisungen. Neave und Mark taten es ihm gleich. Als Mathilde versuchte zu helfen, sackte sie in sich zusammen und verzog das Gesicht schmerzvoll.
„Wir schaffen das alleine“, sagte Royce. „Wie schlimm ist es?“
„Ich werde es überleben“, sagte Mathilde. „Zumindest… glaube ich das.“
„Warum darf sie sich hinsetzen und ausruhen?“, fragte Bolis.
Neave war in Sekundenschnelle vor ihm und hielt einen Dolch in der Hand. „Nenn mir einen Grund, weshalb ich dich nicht ausweiden und den Fischen zum Fraß vorwerfen sollte, Eindringling.“
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