Es wäre vielleicht besser für mich gewesen, wenn ich das Kaffeehausleben geführt hätte, wie es mir die Duchezza geschildert hat. Sie schien es zu billigen, und sie hat viel mehr Weitsicht als ich. Dank ihrer Freigebigkeit oder auch nur mit meinem Jahresgeld von viertausend Franken und den Zinsen von den vierzigtausend Franken, die in Lyon angelegt sind, einem Geschenk meiner Mutter, hätte ich immer meinen Gaul sowie ein paar Taler für Ausgrabungen und für meine Antikensammlung gehabt. Da ich augenscheinlich nicht erfahren soll, was Liebe ist, so wird das für mich immer die Hauptquelle des Glücks bleiben. Ehe ich sterbe, möchte ich noch einmal das Schlachtfeld von Waterloo besuchen und mich nach jener Wiese umsehen, wo ich so spaßig vom Pferd gezogen und auf die Erde gesetzt worden bin. Nach dieser Pilgerfahrt möchte ich häufig an diesen köstlichen See kommen. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt zu sehen, wenigstens nicht für mein Herz. Warum in die Ferne schweifen, um das Glück zu suchen? Hier liegt es vor meinen Augen!
Ach,‹ sagte sich Fabrizzio, gleichsam als Einwand, ›die Polizei verjagt mich vom Comer See, aber ich bin jünger als die Leute, die die Ränke dieser Polizei lenken. Hier fände ich keine Duchezza von Albarocca,‹ fügte er lachend hinzu, ›aber ich fände eine von den kleinen Mädchen da unten, die Blumen auf die Straße streuen, und, wahrlich, ich liebte sie ganz ebenso. Die Heuchelei macht mich sogar in der Liebe eiskalt, und unsere vornehmen Damen trachten nach allzu erhabenen Erfolgen. Napoleon hat ihnen Begriffe von Moral und Treue beigebracht…‹
»Zum Teufel!« rief er plötzlich und zog den Kopf vom Fenster weg, als ob er fürchte, trotz dem Schatten der dicken Holzläden, die die Glocken vor dem Regen schützten, erkannt zu werden. »Da kommen Gendarmen in vollem Wichs!« In der Tat erschienen zehn Gendarmen, darunter vier Obergendarmen, am Ende der großen Dorfstraße. Der Wachtmeister stellte sie mit hundert Schritt Abstand längs des Weges auf, den die Prozession nehmen sollte.
›Jeder Mensch kennt mich hier. Wenn man mich gewahrt, komme ich im Nu vom Comer See nach dem Spielberg, wo man mir an jedes Bein eine hundertpfündige Kette hängt. Welch ein Schmerz wäre das für die Duchezza!‹
Fabrizzio brauchte zwei oder drei Minuten, um sich zu vergegenwärtigen, daß er sich in einer Höhe von mehr als achtzig Fuß befand, daß sein Standpunkt verhältnismäßig im Dunkeln lag, daß die Augen der Gendarmen, die ihn hätten erblicken können, vom grellen Sonnenschein geblendet wurden, und schließlich, daß sie mit aufgerissenen Augen durch die Straßen liefen, deren Häuser dem Fest des heiligen Giovita zu Ehren sämtlich frisch getüncht waren. Trotz dieser so klaren Überlegung wäre Fabrizzios italienische Seele fortan außerstande gewesen, das geringste Vergnügen zu finden, wenn er nicht ein Stück alte Leinwand, in das er zwei Löcher für die Augen schnitt, zwischen sich und die Gendarmen vor die Turmluke genagelt hätte.
Die Glocken erschütterten die Luft seit zehn Minuten; die Prozession kam aus der Kirche; die Mortaretti (Böller) knatterten los. Fabrizzio wandte den Kopf und schaute nach dem kleinen Platz, den eine Mauerbrüstung umschloß und von dem aus man den ganzen See übersah. Dort hatte er als Junge oft gestanden, und die Mortaretti waren zwischen seinen Beinen losgegangen, weshalb seine Mutter ihn am Morgen von Festtagen nicht von sich weg ließ.
Die Mortaretti sind bekanntlich nichts weiter als Gewehrläufe, in vier Zoll lange Stücke zersägt. Nur dazu sammeln die Bauern eifrig die Gewehre, die die Politik Europas seit 1796 in Massen über die lombardische Ebene verstreut hat. Die vier Zoll langen Stücke stopft man ganz voll Pulver, gräbt sie senkrecht in die Erde und verbindet sie untereinander mit einer Zündschnur. Man baut sie in drei Reihen auf, zwei-bis dreihundert Stück, unweit des Prozessionsweges. Sobald sich das Allerheiligste nähert, brennt man die Zündschnur an, und nun beginnt das unregelmäßigste und spaßigste Schützenfeuer von der Welt. Die Frauen sind toll vor Freude. Nichts ist lustiger als das Geknatter dieser Mortaretti, das weit über den See hin schallt, gedämpft durch das Rauschen der Fluten. Dieser seltsame Lärm, an dem er als Kind so oft seine Freude hatte, verscheuchte die etwas zu ernsten Gedanken, die unseren Helden übermannt hatten. Er holte sich das große astronomische Fernglas des Abbaten herbei und erkannte die Mehrzahl der Männer und Frauen, die der Prozession folgten. Viele von den reizenden kleinen Mädchen, die Fabrizzio im Alter von elf und zwölf Jahren verlassen hatte, waren jetzt stattliche Frauen in vollster Jugendkraft. Sie weckten den Mut unseres Helden wieder; um mit ihnen zu plaudern, hätte er den Gendarmen getrotzt.
Als die Prozession vorübergezogen und durch eine Seitentür, die Fabrizzio nicht sehen konnte, wieder in der Kirche verschwunden war, wurde die Hitze trotz der Höhe des Turmes bald unerträglich. Die Dorfbewohner kehrten in ihre Häuser zurück, und das Dorf sank in tiefe Stille. Etliche Barken füllten sich mit Bauern, die nach Bellagio, Menaggio und anderen Orten am See heimfuhren. Fabrizzio vernahm deutlich jeden einzelnen Ruderschlag. Der geringfügige Klang riß ihn hin; seine jetzige Freude beruhte im Grund auf all dem Unglück, all dem Zwang des ränkevollen Hoflebens. Wie glücklich wäre er in diesem Augenblick gewesen, hätte er ein Stück auf diesem schönen, so friedsamen See fahren dürfen, in dem sich der tiefblaue Himmel so klar widerspiegelte.
Er hörte die Tür unten im Turm gehen; es war die alte Haushälterin des Abbaten Blanio, die einen großen Korb brachte. Mit der größten Mühe bezwang er sich, nicht mit ihr zu sprechen. ›Sie hat mich fast ebenso ins Herz geschlossen wie ihr Herr,‹ sagte er sich, ›und überdies reise ich heute abend um neun Uhr ab. Könnte sie das Geheimnis nicht ein paar Stunden lang wahren; wenn sie es mir gelobte ? Aber es wäre vielleicht meinem Freunde nicht recht; ich könnte ihn vor den Gendarmen bloßstellen.‹ Und er ließ Ghita gehen, ohne mit ihr zu sprechen. Das Essen war vortrefflich; dann machte er sichs bequem, um eine Weile zu schlafen. Erst um halb neun Uhr abends erwachte er. Der Abbate schüttelte ihn am Arm. Es war Nacht.
Blanio war außerordentlich müde; er sah fünfzig Jahre älter aus als am Tage zuvor. Er redete nichts von Bedeutung. In seinem hölzernen Lehnstuhl sitzend, sprach er zu Fabrizzio: »Umarme mich!« Er schloß ihn wiederholt in seine Arme. »Der Tod,« sagte er schließlich, »der meinem so langen Leben bald ein Ende macht, wird nichts Schmerzliches für mich haben außer der Trennung von dir. Ich habe eine Geldsumme, die ich Ghita zur Aufbewahrung geben werde, mit der Anweisung, für ihre Bedürfnisse davon zu nehmen, den Rest aber für dich aufzuheben, wenn du sie je darum bitten solltest. Ich kenne sie; auf diese Anordnung hin ist sie imstande, aus Sparsamkeit für dich sich keine viermal im Jahre Fleisch zu kaufen, wenn du es ihr nicht ausdrücklich befiehlst. Du kannst in Not geraten, und das Scherflein des alten Freundes wird dir dann dienlich sein. Von deinem Bruder erwarte nichts als Schlimmes. Suche Geld zu gewinnen durch eine Arbeit, die der Menschheit Nutzen schafft. Ich ahne merkwürdige Stürme. Vielleicht duldet man in fünfzig Jahren keine Nichtstuer mehr. Deine Mutter und deine Tante werden dahingehen; deine Schwestern müssen ihren Männern gehorsam sein… Fort, fort!«
Blanio stieß diese letzten Worte hastig aus. Ein leises Geräusch in der Turmuhr zeigte ihm an, daß sie sogleich zehn Uhr schlagen werde. Er wollte Fabrizzio kaum erlauben, ihn ein letztes Mal zu umarmen.
»Schnell, schnell!« rief er ihm zu. »Du brauchst mindestens eine Minute, um die Treppe hinunterzukommen. Nimm dich vor dem Fallen in acht! Das wäre eine schlimme Vorbedeutung.«
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