«Gegen fünf Uhr».
«Gut, fünf Uhr».
Genau zwei Wochen, nachdem Fabian seinen Auftrag erhalten hatte, meldete er Taubenhaus, dass der Entwurf fertig sei.
Taubenhaus empfing ihn leutselig. Sein Arbeitszimmer war nur matt beleuchtet.
«Lassen Sie hören, was Sie sich ausgedacht habe», begann er und putzte seine goldene Brille mit dem Taschentuch. «Stellen Sie sich an meinen Schreibtisch. Ich nehme borne Platz und spiele Publikum».
Fabian klappte mit den Absätzen und postierte sich an den schweren Schreibtisch des Stadtoberhauptes, an dem schon Napoleon gesessen haben sollte. Taubenhaus nahm auf einem der Stühle für die Besucher Platz. Das breite Gesicht neigte sich, und Fabian begann seine Rede.
«Ich komme aus einer kleinen pommerschen Stad», rief er aus, «wo die Gänse und Ziegen über den Marktplatz laufen».
Das breite Gesicht unter der schwarzen Haarbürste fuhr in die Höhe und die goldene Brille funkelte unwillig.
«Auch in dieser schönen und großen Stadt, in die ich gesandt wurde, laufen noch häufig Gänse und Ziegen über den Marktplat», fuhr Fabian mit erhobener Stimme fort, «die Gänse und Ziegen sind der Geist der Gleichgültigkeit, der Gedankenlosigkeit, der Trägheit».
«Ausgezeichnet». rief Taubenhaus lachend aus. «Ganz ausgezeichnet». Er lachte so herzlich, dass er husten und spucken musste.
Ein neuer Geist müsse die Stadt erfassen, rief Fabian voller Pathos, die geistigen Motoren der Stadt müssen angeworfen werden, die schlummernden seelischen Kräfte und Energien geweckt! Fort mit der Gleichgültigkeit, Gedankenlosigkeit, Trägheit, ja, zum Teufel mit ihnen! Wie Sturmwind in halberloschene Glut fährt, so müsse ein neuer Geist in die Asche fahren und eine züngelnde Lohe emporschlagen, eine helle, heilige Lohe!
Taubenhaus hob das Gesicht und nickte befriedigt.
Und Fabian baute vor seinen Augen die neue «Stadt mit den goldenen Türme». auf, gebettet in Grün, funkelnd wie ein Garten. Als er ihm seine neue Brücke zeigte, die «Heldenbrück». mit den Germanen, Trommlern, Grenadieren, Friedrich dem Großen in ihrer Mitte, setzte Taubenhaus sich aufrecht, er machte Miene aufzuspringen und rief ein paarmal halblaut: «Gut, gut».
Fabian baute unaufhaltsam weiter. Der neue Rathausplatz mit der Rolandstatue, Symbol des Rechts und der Gerechtigkeit, das neue Theater, das Museum, Sportplätze, Schwimmhallen, der Straßendurchbruch Nord-Süd, der neue Bahnhofsplatz mit dem heiter sprudelnden Springbrunnen, er fand kein Ende. Taubenhaus nickte und rief zuweilen «Gut! Ausgezeichnet». dazwischen. Sein Lob trieb Röte in Fabians Wangen.
Er hatte einen guten Tag. Er sprach ausgezeichnet und trug große Teile der Rede völlig frei vor. «Es gibt hier einen Museumsverei», rief er aus. «Er schläft, es gibt einen Historischen Verein, auch er schläft. Und dabei gab es prähistorische Grabstätten nahe der Stadt. Es gibt hier einen Fremdenverkehrsverein, einen Verschönerungsverein, auch die schlafen, schlafen. Wacht auf, wacht auf! Die Zeiten, da man nur Geld verdienen will und andere für sich denken lässt, sie sind vorbei».
Taubenhaus lachte. Doch das war seine letzte Äußerung, fortan hielt er sich ganz still. Er saß mit ausgestreckten Beinen und blickte zur Decke empor, als sei er müde und gleichgültig geworden. War er müde? Ganz und gar nicht, dachte Fabian, der seiner Sache gewiss war. Er spielt den Gleichgültigen. Ich kenne dich sehr gut, Taubenhaus.
Als Fabian geendet hatte, stand Taubenhaus langsam auf und putzte sehr umständlich die goldene Brille. «Gu», brummte er in etwas zu deutlich gespielter Gleichgültigkeit vor sich hin. Dann blickte er auf Fabian, der in bescheidener Haltung neben dem Schreibtisch stand. «Sie haben meine Andeutungen ganz vorzüglich aufgegriffe», sagte er, «als Unterlage ist Ihr Entwurf recht gut geeignet, ich danke Ihnen. Wollen Sie mir bitte eine Liste aller prominenten Persönlichkeiten aufstellen, die unbedingt eingeladen werden müssen».
Wie gut ich dich doch kenne, dachte Fabian und verbeugte sich.
In glänzender Laune kam er in sein Büro zurück.
«Wir haben einen äußerst ehrenvollen Auftrag erhalten, Fräulein Zimmermann». begann er, und die hagere Sekretärin wurde blutrot vor Freude. «Wir sollen eine Liste aller prominenten Persönlichkeiten der Stadt aufstellen, die zur Rede des Bürgermeisters eingeladen werden müssen».
«Sind Sie sich darüber im klaren, welch bedeutende Leute wir geworden sind? Es liegt in unserer Macht, jemand eine hohe Ehre zu erweisen oder aufs tiefste zu verletzen. Verstehen Sie».
Am späten Abend erschien er im «Ster». und bestellte sich eine Flasche Sekt und ein halbes Dutzend der besten Zigarren. «Wir haben es uns verdien», sagte er zu sich.
Das kleine «Residenzcaf». lag in einem barocken Pavillon neben dem früheren bischöflichen Schloss. Es bot einen schönen Ausblick auf die alte Lindenallee, war aber nur an Sonn- und Feiertagen während des Promenadenkonzertes stärker besucht. Sonst traf man dort nur stille Zeitungsleser und häufig Damen, die ihren Kaffeeklatsch veranstalteten. Als Fabian um fünf Uhr die Promenade überschritt, fühlte er, dass Christa schon anwesend war. Er empfand es an dem stärkeren Daseinsgefühl, das ihn durchströmte, augenblicklich fühlte er sich freier, leichter und fröhlicher. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Als er die Tür öffnete, sah er Christa an einem kleinen Fenstertisch sitzen. Sie hob in diesem Augenblick den Kopf, sah ihn mit einem zarten Lächeln ihrer braunen Augen an, und ihr Lächeln und ihr Blick erfüllten ihn mit Freude. Er war von diesem Augenblick an ein völlig neuer, verwandelter Mensch.
«Sie kommen gerade zur rechten Zei», begrüßte sie ihn, «nehmen Sie bitte hier an meiner Seite Platz, wir können so die Photos zusammen besser betrachten».
«Das also ist die Ausbeute Ihrer letzten Spanienreise». fragte Fabian, indem er Platz nahm. «Sie sind außerordentlich fleißig gewesen».
Auf dem Tisch vor Christa lag ein großer Stapel Photos, in denen sie soeben geblättert hatte. Es waren kleinere und größere Aufnahmen, viele hatte sie mit der eigenen Kamera festgehalten.
Christa Lerche-Schellhammer hatte sich einige Jahre mit Modellieren und Malen beschäftigt, war aber nunmehr endgültig, wie sie sagte, zur Architektur übergegangen, um die sie sich mit größtem Ernst bemühte. Zusammen mit ihrer Mutter unternahm sie jedes Jahr eine Reise im Auto, das die beiden Frauen abwechselnd steuerten. Im vergangenen Jahr hatten sie einige Monate Spanien bereist und all diese Photos mitgebracht, meist Aufnahmen von Bauwerken und architektonische Einzelheiten, Portale, Treppen, Kapitäle und andere Details, die Christa besonders interessierten.
Christa nickte. «Warten Si», begann sie eifrig, «ich will Ihnen zuerst diese herrliche kleine Kapelle aus Toledo zeigen, eben hatte ich sie noch in der Hand, ich glaube, sie ist eine der ältesten Kirchen Spaniens. Im Kirchenschiff hängen einige der herrlichsten Grecos [55] El Greco – Эль Греко (1541-1614), испанский художник греческого происхождения
. Hier ist sie».
Und sie erzählte, dass gegenüber von dieser Kapelle eine Weinkneipe lag, in die sie sich beide verliebt hatten, besonders ihre Mutter. Das war ein kleiner Keller, in dem Reihen von mannshohen Weinkrügen, Amphoren, standen. Die riesigen Amphoren waren aus rotem Ton, und der ganze Keller sah wohl überhaupt noch ebenso aus wie zur Zeit der alten Römer. Es war einfach herrlich! Es gab hier die köstlichsten alten Weine, und sie tranken beide hier jeden Tag ein Gläschen. Ihre Mutter pflegte zu sagen: «Gehe du ruhig zu deinen Grecos, ich bleibe hier bei meinen Amphoren».
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