Франк Ведекинд - Frühlings Erwachen

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Frank Wedekind

Frühlings Erwachen: Eine Kindertragödie

Erster Akt

Erste Szene

Wohnzimmer

Wendla

Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?

Frau Bergmann

Du wirst vierzehn Jahr heute!

Wendla

Hätt′ ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre lieber nicht vierzehn geworden.

Frau Bergmann

Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was willst du denn! Kann ich dafür, daß mein Kind mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist. Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzeßkleidchen einhergehen.

Wendla

Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen besser als diese Nachtschlumpe. – Laß mich′s noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder fünfzehn, dies Bußgewand wird mir immer noch recht sein. – Heben wir′s auf bis zu meinem nächsten Geburtstag; jetzt würd′ ich doch nur die Litze heruntertreten.

Frau Bergmann

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich würde dich ja gerne so behalten, Kind, wie du gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und plump in deinem Alter. Du bist das Gegenteil. – Wer weiß, wie du sein wirst, wenn sich die andern entwickelt haben.

Wendla

Wer weiß – vielleicht werde ich nicht mehr sein.

Frau Bergmann

Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!

Wendla

Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!

Frau Bergmann(sie küssend)

Mein einziges Herzblatt!

Wendla

Sie kommen mir so des abends, wenn ich nicht einschlafe. Mir ist gar nicht traurig dabei, und ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe. – Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?

Frau Bergmann

Geh′ denn und häng′ das Bußgewand in den Schrank! Zieh′ in Gottes Namen dein Prinzeßkleidchen wieder an! – Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.

Wendla

(das Kleid in Schrank hängend)

Nein, da möcht′ ich schon lieber gleich vollends zwanzig sein …!

Frau Bergmann

Wenn du nur nicht zu kalt hast! – Das Kleidchen war dir ja seinerzeit reichlich lang; aber …

Wendla

Jetzt, wo der Sommer kommt? – O Mutter, in den Kniekehlen bekommt man auch als Kind keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein. In meinen Jahren friert man noch nicht – am wenigsten an die Beine. Wär′s etwa besser, wenn ich zu heiß hätte, Mutter? – Dank′ es dem lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht eines morgens die Ärmel wegstutzt und dir so zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe entgegentritt! – Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin … Nicht schelten, Mütterchen! Es sieht′s dann ja niemand mehr.

Zweite Szene

Sonntag abend

Melchior

Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht mehr mit.

Otto

Dann können wir andern nur auch aufhören! – Hast du die Arbeiten, Melchior?

Melchior

Spielt ihr nur weiter!

Moritz

Wohin gehst du?

Melchior

Spazieren.

Georg

Es wird ja dunkel!

Robert

Hast du die Arbeiten schon?

Melchior

Warum soll ich denn nicht im Dunkeln spazieren gehn?

Ernst

Zentralamerika! – Ludwig der Fünfzehnte! – Sechzig Verse Homer! – Sieben Gleichungen!

Melchior

Verdammte Arbeiten!

Georg

Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre!

Moritz

An nichts kann man denken, ohne daß einem Arbeiten dazwischen kommen!

Otto

Ich gehe nach Hause.

Georg

Ich auch, Arbeiten machen.

Ernst

Ich auch, ich auch.

Robert

Gute Nacht, Melchior.

Melchior

Schlaft wohl!

(Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)

Melchior

Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind!

Moritz

Lieber wollt′ ich ein Droschkengaul sein um der Schule willen! – Wozu gehen wir in die Schule? – Wir gehen in die Schule, damit man uns examinieren kann! – Und wozu examiniert man uns? – Damit wir durchfallen. – Sieben müssen ja durchfallen, schon weil das Klassenzimmer oben nur sechzig faßt. – Mir ist so eigentümlich seit Weihnachten … hol′ mich der Teufel, wäre Papa nicht, heut′ noch schnürt′ ich mein Bündel und ginge nach Altona!

Melchior

Reden wir von etwas anderem. —

(Sie gehen spazieren.)

Moritz

Siehst du die schwarze Katze dort mit dem emporgereckten Schweif?

Melchior

Glaubst du an Vorbedeutungen?

Moritz

Ich weiß nicht recht. – — Sie kam von drüben her. Es hat nichts zu sagen.

Melchior

Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen. – — Laß uns hier unter der Buche Platz nehmen. Der Tauwind fegt über die Berge. Jetzt möchte ich droben im Wald eine junge Dryade sein, die sich die ganze lange Nacht in den höchsten Wipfeln wiegen und schaukeln läßt....

Moritz

Knöpf′ dir die Weste auf, Melchior!

Melchior

Ha – wie das einem die Kleider bläht!

Moritz

Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man die Hand nicht vor den Augen sieht. Wo bist du eigentlich? – — Glaubst du nicht auch, Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung ist?

Melchior

Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir, du solltest dich vollständig entkleiden vor deinem besten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er es nicht zugleich auch tut. – Es ist eben auch mehr oder weniger Modesache.

Moritz

Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein und demselben Lager, zusammenschlafen, lasse sie morgens und abends beim An- und Auskleiden einander behilflich sein und in der heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem Wollstoff tragen. – Mir ist, sie müßten, wenn sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir es in der Regel sind.

Melchior

Das glaube ich entschieden, Moritz! – Die Frage ist nur, wenn die Mädchen Kinder bekommen, was dann?

Moritz

Wie so Kinder bekommen?

Melchior

Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen gewissen Instinkt. Ich glaube, wenn man einen Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr mit der Außenwelt fernhält, d. h. sie ganz nur ihren eigenen Trieben überläßt – daß die Katze früher oder später doch einmal trächtig wird, obgleich sie sowohl wie der Kater niemand hatten, dessen Beispiel ihnen hätte die Augen öffnen können.

Moritz

Bei Tieren muß sich das ja schließlich von selbst ergeben.

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