Im Internetverlauf waren noch die letzten Suchergebnisse gespeichert. Die meisten davon schienen zur Recherche für ein Biologieprojekt zu gehören, aber es waren auch ein paar Seiten von Model-Agenturen dabei – in Los Angeles, New York und Las Vegas. Dann fand Keri noch die Seite für ein Surfing-Turnier in Malibu und die Website einer lokalen Band namens Rave.
Entweder ist Ashley das durchschaubarste, langweiligste Mädchen aller Zeiten, oder sie hat diese Seiten absichtlich sichtbar gelassen, um ihre Eltern in Sicherheit zu wiegen.
Keris Instinkt sagte ihr, dass letztere die richtige Lösung war.
Sie setzte sich auf Ashleys Bett und schloss die Augen. Sie versuchte sich in das Mädchen hineinzuversetzen, schließlich war sie auch einmal fünfzehn Jahre alt gewesen. Außerdem hoffte sie immer noch, eines Tages auch eine Tochter in diesem Alter zu haben. Nach zwei Minuten öffnete sie wieder die Augen und sah sich mit einem frischen Blick um. Sie sah sich jedes Regal einzeln an, in der Hoffnung etwas Besonderes zu finden.
Sie wollte gerade aufgeben, als ihr Blick auf ein Mathematikbuch fiel. Algebra Klasse 9
Hatte Mia nicht gesagt, dass sie in die zehnte Klasse ging? Hatte ihre Freundin Thelma sie nicht in der Geometriestunde gesehen? Warum würde sie ein altes Mathematikbuch behalten? Vielleicht, um Stoff nachzuholen?
Keri nahm das Buch vom Regal und begann darin zu blättern. Kurz bevor sie es wieder ablegen wollte, fiel ihr auf, dass ziemlich weit hinten zwei Seiten zusammengeklebt waren. Dazwischen war etwas Hartes verborgen.
Keri schälte behutsam die Seiten auseinander, bis es auf den Boden fiel. Sie hob es auf. Es war ein überzeugend gut gefälschter Führerschein mit Ashleys Gesicht darauf.
Ashlynn Penner, laut Geburtsdatum zweiundzwanzig Jahre alt.
Keri war jetzt überzeugt, dass sie auf der richtigen Spur war. Sie sah sich weiter um. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, bis die Penns unruhig werden würden. Nach weiteren fünf Minuten fand sie noch etwas. Tief in einem Tennisschuh versteckt fand sie die Hülse einer abgeschossenen 9mm Patrone. Sie steckte sie zusammen mit dem gefälschten Führerschein in eine durchsichtige Plastiktüte für Beweismaterialien und verließ das Zimmer. Mia Penn kam ihr gerade im Flur entgegen, als sie hinter sich die Tür schloss. Keri sah ihr an, dass etwas geschehen war.
„Ashleys Freundin Thelma hat gerade angerufen. Sie hat mit ein paar anderen Leuten über Ashleys Verschwinden gesprochen und sie sagt, dass ein Mädchen namens Miranda Sanchez gesehen hat, wie Ashley bei dem Hundepark in Main Street in einen schwarzen Van gestiegen ist. Sie sagt, dass sie nicht genau sehen konnte, ob Ashley freiwillig eingestiegen ist, oder ob sie hineingezogen wurde. Sie hat sich nichts dabei gedacht, bis sie gehört hat, dass Ashley vermisst wird.“
Keri bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, auch wenn ihr Blutdruck deutlich angestiegen war.
„Kennen Sie jemanden, der einen schwarzen Van besitzt?“
„Nein.“
Keri ging entschlossen auf die Treppe zu. Mia Penn folgte ihr.
„Mia, rufen Sie bitte wieder auf dem Revier an, die gleiche Nummer, unter der Sie mich erreicht haben. Sagen Sie dort Bescheid, dass Sie in meinem Auftrag anrufen. Vermutlich werden Sie mit einem Mann namens Suarez verbunden. Geben Sie Ashleys Beschreibung durch, einschließlich der Kleidung, die sie heute getragen hat. Geben Sie ihm außerdem die Namen und Telefonnummern von Ashleys Freunden: Thelma, Miranda, Denton Rivers, alle. Und sagen Sie ihm, dass er mich anrufen soll.“
„Warum brauchen Sie diese Informationen?“
„Weil wir sie befragen werden.“
„Sie machen mich nervös. Das ist kein gutes Zeichen, oder?“, fragte Mia.
„Wahrscheinlich hat das alles nichts zu bedeuten, aber wir sollten es trotzdem überprüfen.“
„Was kann ich tun?“
„Sie bleiben hier, falls Ashley anruft oder nach Hause kommt.“
Sie gingen nach unten. Keri sah sich um.
„Wo ist Ihr Mann?“
„Er musste noch einmal ins Büro gehen.“
Keri biss sich auf die Zunge und ging zur Tür.
„Wohin gehen Sie?“, rief Mia ihr hinterher.
„Ich mache mich auf die Suche nach Ihrer Tochter“, rief Keri zurück.
Montag
Früher Abend
Als Keri zu ihrem Wagen eilte, versuchte sie die Hitze, die vom Asphalt aufstieg, zu ignorieren. Schon nach einer Minute standen ihr Schweißperlen auf der Stirn. Sie fluchte leise, als sie Rays Nummer wählte.
Ich bin verdammte sechs Blocks vom Meer entfernt, es ist Mitte September – wann lässt diese verdammte Hitze endlich nach?
Es klingelte eine Weile, bevor Ray antwortete.
„Was?“, fragte er genervt.
„Du musst kommen. Main Street, gegenüber West Venice High.“
„Wann?“
„Jetzt, Raymond.“
„Warte kurz.“ Sie hörte, wie er sich bewegte und etwas murmelte. Es klang, als wäre er nicht alleine. Als er sich wieder meldete, war er scheinbar in einem anderen Raum.
„Nun. Ich war gerade – beschäftigt.“
„Dann musst du dich eben ent-schäftigen, Detective. Wir haben einen Fall zu lösen.“
„Geht es um diesen Teenager in Venice?“, fragte er verärgert.
„Ganz genau. Und den Tonfall kannst du dir sparen. Außer natürlich, du hältst es nicht für wichtig, dass die Tochter eines US Senators vermisst wird, seit sie in einen schwarzen Van gestiegen ist.“
„Gütiger Himmel! Warum hat die Mutter nicht dazu gesagt, dass es sich um die Familie eines Senators handelt?“
„Weil er es nicht wollte. Wie du glaubt er, dass alles in Ordnung ist.“
Keri war jetzt bei ihrem Auto angekommen. Sie aktivierte die Lautsprecherfunktion, legte das Handy auf den Beifahrersitz und stieg ein. Als sie losfuhr, erzählte sie Ray alles, was sie wusste. Sie berichtete von dem gefälschten Führerschein, der Patronenhülse, der Zeugin, die Ashley – eventuell gegen ihren Willen – in einem schwarzen Van verschwinden sah und von ihrem Plan, alle Beteiligten zu befragen. Als sie gerade fertig war, brummte ihr Handy. Sie warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm.
„Suarez ruft an. Ich werde ihn über die Einzelheiten informieren. Alles klar soweit? Können wir uns treffen? Oder bist du immer noch beschäftigt?“
„Ich gehe gerade zum Auto. Ich bin in fünfzehn Minuten da“, erwiderte er ohne auf ihre Stichelei einzugehen.
„Sag ihr, dass es mir leid tut, wer auch immer die Dame war“, sagte Keri sarkastisch.
„Sie ist nicht besonders zart besaitet“, entgegnete Ray.
„Warum überrascht mich das nicht?“
Dann nahm sie den anderen Anruf an, ohne sich von Ray zu verabschieden.
*
Fünfzehn Minuten später gingen Keri und Ray genau die Stelle ab, an der Ashley Penn möglicherweise entführt worden war. Sie konnten nichts Auffälliges finden. Der Hundepark, der direkt am Straßenrand lag, war gut besucht, fröhliche Besitzer riefen Namen wie Hoover, Speck, Conrad und Delilah.
Reiche, alternative Hundebesitzer. Ach ja, Venice.
Keri versuchte diese belanglosen Gedanken zu vertreiben. Sie musste sich jetzt konzentrieren, auch wenn es nicht viel gab, worauf sie sich konzentrieren konnte. Ray schien es genauso zu gehen.
„Vielleicht ist sie einfach weggelaufen?“, grübelte er.
„Ich schließe es nicht aus“, sagte Keri. „Sie ist definitiv nicht die unschuldige kleine Prinzessin, für die ihre Mutter sie hält.“
„Das sind sie nie.“
„Was auch immer sich zugetragen hat, es ist gut möglich, dass sie selbst eine entscheidende Rolle dabei spielt. Umso mehr wir über sie herausfinden, desto besser können wir die Situation einschätzen. Wir müssen unbedingt mit ein paar Leuten reden, die uns mehr als die offizielle Version erzählen können. Was hat es zum Beispiel mit diesem Senator auf sich? Er fand es jedenfalls nicht gut, dass ich meine Nase in Familienangelegenheiten steckte.“
Читать дальше