„Was soll ich denn jetzt tun?“, fragte sie sich verzweifelt.
„Nun ja, es gibt verschiedene Optionen“, erwiderte der alte Mann. „Du könntest zur Werkstatt laufen, sie ist nur etwa eine Meile entfernt.“ Dabei deutete er mit seinen kurzen, faltigen Fingern in die Richtung, aus der sie gekommen war. „Oder ich könnte dich dorthin abschleppen, wo auch immer du hinwolltest.“
„Würdest du das wirklich tun?“, fragte Emily, überrascht von seiner Freundlichkeit, etwas, an das sie durch ihre lange Zeit in New York nicht gewohnt war.
„Natürlich“, entgegnete der Mann. „Ich werde dich nicht mitten in der Nacht in einem Schneesturm hier zurücklassen. Ich habe gehört, dass es in der nächsten Stunde schlimmer werden soll. Wohin genau bist du denn unterwegs?“
Emily war von Dankbarkeit erfüllt. „West Street. Nummer Fünfzehn.“
Der Mann legte seinen Kopf neugierig auf die Seite. „West Street fünfzehn? Das alte, heruntergekommene Haus?“
„Ja“, antwortete Emily. „Es gehört meiner Familie. Ich muss einmal etwas alleine sein.“
Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Ich kann dich dort nicht hingehen lassen. Das Haus fällt auseinander. Ich bezweifele, dass es überhaupt wasserdicht ist. Warum kommst du nicht mit zu mir? Wir leben über dem kleinen Einkaufsladen, meine Frau Bertha und ich. Es wäre uns eine Freude, dich bei uns aufzunehmen.“
„Das ist sehr nett von dir“, erwiderte Emily. „Aber ich will im Moment einfach nur alleine sein. Wenn du mich also zur West Street abschleppen könntest, wäre ich dir sehr dankbar.“
Der alte Mann musterte sie einen Moment lang, bevor er schließlich nachgab. „Okay, junge Dame. Wenn du darauf bestehst.“
Emily war erleichtert, als er in seinen LKW stieg und damit vor ihr Auto fuhr. Sie beobachtete, wie er ein dickes Seil hervorholte und die beiden Fahrzeuge aneinanderband.
„Willst du mit mir fahren?“, fragte er. „Ich habe zumindest eine Heizung.“
Emily lächelte leicht, doch schüttelte ihren Kopf. „Ich würde lieber –“
„Alleine sein“, beendete der alte Mann gemeinsam mit ihr den Satz. „Schon verstanden. Schon verstanden.“
Emily stieg wieder in das Auto und fragte sich, welchen Eindruck sie auf den alten Mann wohl gemacht hatte. Er musste denken, dass sie ein bisschen verrückt war, weil sie unvorbereitet und mit unpassenden Kleidern mitten in der Nacht bei einem anstehenden Schneesturm unbedingt zu einem heruntergekommenen, verlassenen Haus gefahren werden wollte, damit sie komplett alleine sein konnte.
Der LKW vor ihr erwachte brummend zum Leben und sie konnte spüren, wie er das Auto vorwärts zog. Als sie so davonfuhren, lehnte sie sich zurück und schaute aus dem Fenster. Auf der einen Seite der Straße, die die letzten paar Meilen zu dem Haus führte, lag der Nationalpark und auf der anderen war das Meer. Durch die Dunkelheit und den Vorhang aus fallendem Schnee konnte Emily den Ozean und die Wellen sehen, die gegen die Felsen krachten. Dann, als sie in die Stadt fuhren, verschwand das Meer aus ihrem Blickfeld, stattdessen fuhren sie an Hotels und Motels, Bootstour-Unternehmen und Golfplätzen vorbei und durch dichter besiedelte Gebiete hindurch. Doch Emily fand, dass man es im Vergleich zu New York kaum als dicht besiedelt bezeichnen konnte.
Dann bogen sie links auf die West Street ab und Emilys Herz setzte für einen Moment aus, als sie an dem großen Eckhaus aus rotem, mit Efeu bewachsenen Eckhaus vorbeifuhren. Es sah genauso aus wie vor zwanzig Jahren, als sie das letzte Mal hier gewesen war. Sie fuhren erst an dem blauen, dann dem gelben und dem weißen Haus vorbei und sie biss sich auf die Lippe, denn sie wusste genau, dass das nächste Haus, das graue Steinhaus, ihres wäre.
Als es vor ihr auftauchte, überkam Emily ein starkes Gefühl der Nostalgie. Mit fünfzehn war sie das letzte Mal hier gewesen, damals war ihr Körper bei der Aussicht auf eine mögliche Sommerromanze voller Hormone gewesen. Sie hatte zwar nie eine gehabt, doch sie erinnerte sich noch genau an den Kick des Möglichen, der sie damals wie eine Welle überrollt hatte.
Der LKW kam zum Stehen, genauso wie Emilys Auto.
Noch bevor sich die Räder vollständig aufgehört hatten zu drehen, war Emily schon aus dem Auto gesprungen und stand vor dem Haus, das einmal ihrem Vater gehört hatte. Ihre Beine zitterten, sie war sich nicht sicher, ob sie das vor Erleichterung, endlich angekommen zu sein oder vor lauter Emotionen, endlich, nach so vielen Jahren, wieder hier zu stehen, taten. Aber während die anderen Häuser in der Straße unverändert aussahen, besaß das Haus ihres Vaters nur noch einen Schatten seines früheren Glanzes. Die einst weißen Fensterläden strotzten jetzt nur so vor Dreck. Während sie früher offen gestanden hatten, waren sie jetzt jedoch alle geschlossen, wodurch das Haus sogar noch weniger einladend wirkte als vor all den Jahren. Das Gras auf dem ausladenden Rasen vor dem Haus, auf dem Emily endlose Sommertage mit dem Lesen von Romanen verbracht hatte, machte überraschenderweise einen gepflegten Eindruck und sogar die kleinen Büsche an beiden Seiten der Eingangstür waren geschnitten. Doch das Haus an sich… jetzt sie verstand die verwirrte Reaktion des alten Mannes, als sie ihm gesagt hatte, wohin sie unterwegs war. Es schaute so verwahrlost aus, so ungeliebt auf dem Weg in die Baufälligkeit. Es machte Emily traurig, zu sehen, wie viel des schönen, alten Hauses im Laufe der Jahre verfallen war.
„Nettes Haus“, bemerkte der alte Mann, als er neben ihr zum Stehen kam.
„Danke“, erwiderte Emily fast wie in Trance, ihre Augen klebten förmlich an dem alten Gebäude. Schnee wehte um sie herum. „Und danke, dass du mich in einem Stück hierhergebracht hast“, fügte sie hinzu.
„Kein Problem“, antwortete der alte Mann. „Und du bist dir sicher, dass du heute Nacht hierbleiben willst?“
„Ich bin mir sicher“, entgegnete Emily, doch in Wirklichkeit begann sie sich zu fragen, ob es nicht ein großer Fehler gewesen war, hierher zu kommen.
„Lass mich dir mit deinen Taschen helfen“, sagte der Mann.
„Nein, nein“, winkte Emily ab. „Wirklich, du hast mehr als genug getan. Ich schaffe es von hier aus.“ Sie wühlte in ihrer Tasche herum und förderte einen zusammengekrümpelten Dollarschein heraus. „Hier, Benzingeld.“
Der Mann schaute zuerst auf das Geld und richtete dann seinen Blick auf sie. „Das werde ich nicht annehmen“, bemerkte er mit einem freundlichen Lächeln. „Behalte dein Geld. Wenn du mir wirklich etwas zurückgeben willst, warum kommst du dann nicht irgendwann im Laufe deines Aufenthaltes einmal zu mir und Bertha auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen?“
Emily spürte, wie sich in ihrem Hals ein Kloß formte, während sie den Geldschein zurück in ihre Tasche steckte. Die Freundlichkeit dieses Mannes schockierte sie nach der ganzen Feindseligkeit in New York.
„Wie lange hast du überhaupt vor zu bleiben?“, fragte er, als er ihr ein kleines Stück Papier mit einer Telefonnummer und einer Adresse reichte.
„Nur übers Wochenende“, gab Emily zurück und nahm das Stück Papier an.
„Nun ja, wenn du irgendetwas brauchst, dann ruf mich einfach an. Oder komm zur Tankstelle, wo ich arbeite. Sie ist direkt bei dem Tante-Emma-Landen. Du kannst sie gar nicht verpassen.“
„Danke“, sagte Emily erneut und versuchte, so viel Dankbarkeit wie möglich in dieses Wort zu legen.
Sobald das Geräusch des Motors in der Entfernung verhallte, legte sich wieder Stille über sie und plötzlich wurde Emily von einem Gefühl des Friedens erfüllt. Der Schneefall hatte sogar noch zugenommen und hüllte die Welt in eine weiße Stille.
Emily ging zu ihrem Auto zurück, um ihre Sachen zu holen, dann stampfte sie mit dem schweren Koffer in den Armen den Weg entlang. Dabei baute sich immer mehr Emotionen in ihrer Brust auf. Als sie die Haustür erreichte, hielt sie kurz inne, um den altbekannten Knauf zu betrachten und sich daran zu erinnern, dass sie ihn schon hunderte Male gedreht hatte. Vielleicht war es doch eine gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Seltsamerweise konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, genau dort zu sein, wo sie sein sollte.
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