Sie warf einen Blick auf die Fotos auf dem Kaminsims, um zu sehen, ob es etwas gab, das es Wert wäre, es mitzunehmen, doch ihr fiel auf, dass jedes Bild, in dem sie zu sehen war, mit Bens Familie geschossen wurde. Bei dem Geburtstag seiner Nichte, bei der Hochzeit seiner Schwester. Es gab kein einziges Bild von ihr mit ihrer Mutter, dem einzigen weiteren Menschen in ihrer Familie, und schon gar keines von Ben, während er Zeit mit den beiden verbrachte. Plötzlich erkannte Emily, dass sie in ihrem eigenen Leben fremd gewesen war. Sie war jahrelang dem Weg eines anderen Menschen gefolgt, anstatt sich ihren eigenen zu suchen.
Sie stürmte durch die Wohnung ins Badezimmer. Hier standen die einzigen Sachen, die ihr etwas bedeuteten – ihre schönen Bade- und Pflegeprodukte sowie ihr Makeup. Aber sogar das war für Ben ein Problem gewesen. Er hatte sich andauernd darüber beschwert, wie viele Produkte sie hatte, und was für eine Geldverschwendung sie doch wären.
„Es ist mein Geld, also kann ich es ausgeben, für was auch immer ich will!“, schrie Emily ihr Spiegelbild an, während sie all ihre Sachen in eine Reisetasche packte.
Sie wusste, dass sie wie eine Verrückte aussehen musste, wie sie so durch das Badezimmer stürmte und halbleere Shampoo-Flaschen in ihre Tasche warf, doch es war ihr egal. Ihr Leben mit Ben war nicht als eine Lüge, die sie so schnell wie möglich beenden wollte.
Als nächstes rannte sie ins Schlafzimmer, wo sie einen Koffer unter dem Bett hervorzog. Schnell füllte sie ihn mit all ihren Kleidern und Schuhen. Sobald sie ihre Sachen eingesammelt hatte, zog sie alles hinaus auf die Straße. Dann ging sie, als endgültige symbolische Geste, zurück in die Wohnung und legte ihren Schlüssel auf Bens „sentimental wertvollen“ Couchtisch, dann ging sie hinaus, mit dem Vorsatz, nie wieder zurückzukommen.
Erst, als sie auf dem Bordstein stand, wurde Emily allmählich bewusst, was sie getan hatte. In nur wenigen Stunden hatte sie es geschafft, ohne Job und ohne Wohnung dazustehen. Plötzlich wieder in Single zu sein war eine Sache, doch ihr gesamtes Leben wegzuschmeißen war etwas ganz Anderes.
Kleine Panikwellen begannen, durch ihren Körper zu schießen. Ihre Hände zitterten, während sie ihr Handy herauszog und Amys Nummer wählte.
„Hey, was ist los?“, meldete sich Amy.
„Ich habe etwas Verrücktes getan“, antwortete Emily.
„Erzähl weiter…“, drängte sie Amy.
„Ich habe meinen Job gekündigt.“
Sie hörte Amy am anderen Ende der Leitung tief ausatmen.
„Oh, Gott sei Dank“, erklang schließlich die Stimme ihrer Freundin. „Ich dachte schon, du würdest mir sagen, dass du wieder zu Ben zurückgegangen wärst.“
„Nein, nein, sogar das Gegenteil. Ich habe meine Tasche gepackt und bin gegangen. Jetzt stehe ich auf der Straße wie eine Stadtstreicherin.“
Amy begann zu lachen. „Das stelle ich mir gerade bildlich vor.“
„Das ist nicht lustig!“, erwiderte Emily, panischer denn je zuvor. „Was soll ich denn jetzt tun? Ich habe meinen Job gekündigt. Ohne Job werde ich keine neue Wohnung finden!“
„Du musst aber zugeben, dass es zumindest ein bisschen lustig ist“, entgegnete Amy kichernd. „Bring einfach alles rüber“, fügte sie lässig hinzu. „Du kannst bei mir bleiben, bis du dir etwas überlegt hast.“
Aber Emily wollte das nicht. Sie hatte praktisch Jahre ihres Lebens damit verbracht, in der Wohnung eines anderen Menschen zu leben und sich in ihrem eigenen Zuhause wie eine Hausiererin zu fühlen. Es kam ihr so vor, als ob Ben ihr einen Gefallen damit getan hätte, sie bei sich wohnen zu lassen. Das wollte sie nicht mehr. Sie musste ihr eigenes Leben führen, auf ihren eigenen zwei Beinen stehen.
„Ich schätze dein Angebot“, sagte Emily, „aber ich muss erst einmal meinen eigenen Weg gehen.“
„Das verstehe ich“, erwiderte Amy. „Was hast du jetzt vor? Wirst du die Stadt für eine Weile verlassen? Deinen Kopf frei bekommen?“
Diese Worte brachten Emily zum Nachdenken. Ihr Vater besaß ein Haus in Maine. Als Kind hatten sie dort ihre Sommer verbracht, doch es stand seit seinem Verschwinden vor zwanzig Jahren leer. Es war alt, voller Charakter, und war einmal aus historischer Sicht prächtig gewesen. Es machte mehr den Anschein eines ausgedehnten Bed & Breakfast, weshalb ihr Vater nicht gewusst hatte, was er aus dem Haus machen sollte.
Damals war es kaum präsentabel gewesen und Emily wusste, dass es jetzt, nach zwanzig Jahren Vernachlässigung, auf keinen Fall in einem guten Zustand sein konnte; es würde sich auch nicht gleich anfühlen, allein in dem Haus zu sein – vor allem jetzt, da sie kein Kind mehr war. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass gerade kein Sommer war. Es war Februar!
Und doch erschien ihr die Idee, ein paar Tage in einem Schaukelstuhl auf der Veranda eines Ortes, der ihr gehörte (zumindest so einigermaßen), zu verbringen und das Meer zu betrachten, fürchterlich romantisch. Für das Wochenende aus New York rauszukommen, wäre eine gute Möglichkeit, ihren Kopf freizubekommen und sich zu überlegen, was sie als nächstes tun könnte.
„Ich muss los“, sagte Emily.
„Warte“, widersprach Amy. „Sag mir zuerst, wo du hingehst!“
Emily holte einmal tief Luft.
„Ich gehe nach Maine.“
Emily musste mit verschiedenen U-Bahnen fahren, um den Langzeitparkplatz in Long Island City zu erreichen, wo ihr altes, heruntergekommenes Auto stand. Sie hatte es schon seit Jahren nicht mehr verwenden, denn Ben hatte immer darauf bestanden, selber zu fahren, damit er mit seinem kostbaren Lexus angeben konnte. Als sie über den riesigen, schattenreichen Parkplatz lief und ihren Koffer hinter sich herzog, fragte sie sich, ob sie überhaupt noch fahren könnte. Das war auch eines der Dinge, die sie im Laufe ihrer Beziehung hatte schleifen lassen.
Allein schon der Weg hierher, zu diesem Parkplatz am Rande der Stadt, hatte sich endlos angefühlt. Während sie sich ihrem Auto näherte, hallten ihre Schritte auf dem gefrorenen Parkplatz wider und sie fühlte sich fast schon zu müde und erschöpft, um weiter zu gehen.
Machte sie gerade einen Fehler?, fragte sie sich. Sollte sie umkehren?
„Da ist es ja.“
Emily drehte sich um und sah, wie der Parkplatzwächter mit einem schon fast mitleidigen Lächeln auf ihr heruntergekommenes Auto schaute. Er streckte seine Hand aus, in der er ihre Schlüssel hielt.
Der Gedanke daran, jetzt noch eine achtstündige Fahrt vor sich zu haben, kam ihr wie eine überwältigende, unmöglich zu meisternde Herausforderung vor. Sie war bereits jetzt schon so unglaublich erschöpft, sowohl physisch als auch emotional.
„Wollen Sie sie nicht nehmen?“, fragte er schließlich.
Emily blinzelte, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie mit ihren Gedanken abgeschweift war.
Sie stand dort und wusste irgendwie, dass dieser Moment entscheidend war. Würde sie zusammenbrechen und zu ihrem alten Leben zurücklaufen?
Oder wäre sie stark genug, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen?
Emily schüttelte die dunklen Gedanken ab und zwang sich dazu, stark zu sein. Zumindest für jetzt.
Sie nahm die Schlüssel und ging stolz zu ihrem Auto. Dabei versuchte sie, mutig und selbstsicher zu sein, doch insgeheim war sie nervös, dass es gar nicht mehr anspringen würde, oder dass sie sich nicht mehr daran erinnern könnte, wie man fuhr, wenn er denn doch noch funktionierte.
Sie saß in dem eiskalten Auto, schloss ihre Augen und schaltete den Motor ein. Sie beschloss, dass es ein gutes Zeichen wäre, wenn er ansprang. Wenn er kaputt wäre, könnte sie umkehren.
Sie hasste es, zugeben zu müssen, dass sie sich insgeheim wünschte, dass der Motor nicht mehr funktionierte.
Sie drehte den Schlüssel um.
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