Honoré de Balzac - Lebensbilder
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In «Lebensbilder» schildert Balzac die Lebenssituation der Pariser Gesellschaft.
Balzac bedient sich hierbei der verschiedenen Perspektiven der unterschiedlichen Stände, so werden Ansichten, Interessen und Eigenarten besonders plastisch herausgearbeitet.
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Honoré de Balzac
Lebensbilder
Dem Verfasser des letzten Chouan, oder die Bretagne im Jahre 1800. Aus dem Französischen übersetzt vom Dr. Schiff
Drei Teile in zwei Bänden
Mit einer Geschichte des Werkes und einer Biographie Schiffs herausgegeben von Friedrich Hirth
Impressum
ISBN 9783955014735
2013 andersseitig.de
Covergestaltung: Erhard Koch
Digitalisierung: Erhard Koch
andersseitig Verlag
Dresden
www.andersseitig.de
info@new-ebooks.de
(mehr unter Impressum-Kontakt)
Geschichte des Werkes
Ein schwerer bleierner Sargdeckel wurde gesprengt, und eine reiche Fülle gebundener geistigen Energie, die sich seit langem gesammelt hatte und der Entladung zudrängte, wurde frei. Mit seiner ungebändigten Überkraft und seinem ungeberdigen Wollen hatteeiner die intellektuelle Kapazität großer Völker in den engen Pferch des Sarges gepreßt und achtete nicht des dumpfdröhnenden Grollens, das immer wieder aus dem Sarginnern herauftönte. Denn der eine wußte nur zu gut, daß er vom Wüten des Geistes, den er in starre Fesseln geschlagen hatte, so gut wie nichts befürchten müsse, daß ihn nur rohe physische Gewalt verderben könne.
Ihr erlag er endlich. Und nun schlug auch für den lebendig Eingemauerten die Befreiungsstunde. Voll ewiger Jugend und Tatkraft, der selbst die vieljährige Einkerkerung nichts hatte anhaben können, entfloh er seiner engen Haft und stürmte in das neugefundene Leben hinaus. –
Von Waterloo und der Beseitigung des geistigen Despotismus, den Napoleon Europa als schlimmste Kontribution auferlegt hatte, und der mit des Korsen Sturze zusammenbrach, ist die Rede. Man feiert Wellingtons und Blüchers Sieg immer nur als politisches Ereignis, womit dessen historische Bedeutung gewiß nicht unterschätzt ist. Aber man sollte nicht übersehen, von welchen nachhaltigen Folgen die Überwindung des Unüberwindlichen für das Wiedererwachen aller erstarrten schönwissenschaftlichen Bestrebungen der Nationen begleitet war. Am sichtlichsten zunächst vielleicht nur in Frankreich, dann aber im übrigen Europa. Alle solange gehemmt gewesenen künstlerischen Regungen brachen sich Bahn und forderten Daseinsberechtigung für sich. Nun konnte man aber auch daran denken, alles morsch und überlebt Gewordene über Bord zu werfen und neue Formen und Gestalten erstehen zu lassen.
Die Invasion der »Vandalen« habe nach Napoleons Sturze in Frankreich begonnen, riefen damals die intellektuellen Konservativen, die nur übersahen, daß von diesen »Vandalen« Frankreich seine neue Kritik, seine neue Philosophie, seine neue Dichtkunst bekommen habe.
Goethe und Schiller erschienen jetzt in der französischen Hauptstadt, geführt von der feinsten Geistigkeit des neueren Frankreich, der Frau von Staël. Sie setzte den drei Klassikern der französischen Bühne Lorbeerkränze auf und schickte sie dann über die Grenze. Und nun begann die Fehde zwischen Klassik und Romantik. Lamartine gab seine »Méditations«. Mit Staunen sah man zu seiner Poesie auf, die kühn und gewaltig in düsterer Majestät himmelanstrebte, von wundersamen Melodien ertönend wie eine gotische Kathedrale, in der alle Glocken durch den stillen Abend läuten. Dann erschien »Éloa« von Alfred de Vigny, ein Gedicht voll schauerlicher Anmut wie die Morgenröte in den Flammen eines Gewitters. Hierauf kamen die »Odes et ballades« von Victor Hugo, die »Poësies« von J. Delorme, »Henri III.« von Dumas und endlich »Hernani«. Es war eine völlige Revolution im Reiche des Schönen. Der Spiritualismus wehte wie ein geistiger Frühling über dem alten Paris, in dem es glühte und grünte und blühte und sang, wie nie zuvor. Das kritische Gerüste der alten Schule stürzte zusammen, die Fesseln der drei Einheiten wurden gesprengt, der Alexandriner stieg von seiner Rosinante und schnallte die klassische Rüstung ab, bewegte sich leicht und behend und änderte die Tracht, je nachdem es Zeit und Sitte geboten. Mit der regelrechten Literatur war es vorbei. Vom Publikum und vom »Globe« aus dem Felde geschlagen, von den kleinen Blättern gehöhnt, vom»Théâtre français« verwünscht, das sich an ihren Trauerspielen arm gespielt, suchten die Klassiker Schutz bei der Regierung, die den Romantikern das Nationaltheater verbieten sollte. Ein solches Gelächter hatte Paris noch nicht gehört, und das Verbot wurde nicht erlassen. «Hernani« wurde in der comédie française aufgeführt, unter dem ungeheueren Beifalls- und Mißfallens-Tumulte. Es war die Schlacht zwischen Vandalen und Perücken – die Vandalen siegten. Aber jeden Abend wurde dieser Kampf erneuert. Bei »Lucrezia Borgia« und »Maria Tudor« dieselben Skandale. Es fehlte nicht viel, und Victor Hugo wäre geprügelt worden. Shakespeare und Schiller wurden angeklagt, daß sie den jungen Leuten die Köpfe verdrehten. Der »Constitutionnel« erhob täglich, von englischen Blättern (Edinbourgh review, New-Monthly-Magazin, theatrical Magazin) unterstützt, die heftigsten Anklagen gegen das junge Geschlecht.
Man konnte es diesem nicht verzeihen, daß es sich mehr an die Phantasie als an den Verstand (wie die verstaubte Klassik) wandte, daß jetzt Menschen mit menschlichen Leidenschaften an die Stelle der blassen, blutleeren Schemen getreten waren.
Englische Blätter leisteten, wie oben gezeigt, den französischen in diesem Kampfe freundnachbarliche Hilfe. Nur dem französischen Kaisertum war man ja im Britenreich feindlich gesinnt gewesen; einer intellektuellen Revolutionierung wollte man dort ebensowenig das Wort reden, wie seit 1789 einer politischen. Man übersah bloß, daß gerade die beständig angefeindete französische Staatsumwälzung in England das Auftreten zwar nicht seines größten, gewiß aber meistgelesenen Dichters des 19.Jahrhunderts gezeitigt hatte. WalterScotts Siegeslaufbahn begann. Aus der Fülle der welthistorischen Ereignisse, die er selbst miterlebt hatte, war ihm die Anregung geworden, die Geschichte selbst zum Gegenstand der Dichtung zu machen. Wohl war er nicht einmal in England der erste, der solches wagte. Wenn schon nicht mehr de Foes »Memoirs of a Cavalier«, hatte er doch wohl der Damen Lee und Porter »Recess« und»Scottish Chiefs« gelesen, die so etwas wie historische Romane geschaffen hatten, aber von der geschichtlichen Treue oft recht weit abgeirrt waren. Scott hat jedenfalls erst die nicht unwirksame Verbindung von historischer Wirklichkeit und freier Erfindung künstlerisch gehoben und ihr Daseinsberechtigung verschafft. In Jahrzehnten, die dem mächtigen Flügelrauschen gewaltiger Begebenheiten angstvoll hatten lauschen dürfen, mußte seine dichterische Tat ein lautes Echo wecken. Es war ein Taumel der jubelndsten Begeisterung, in die man sich bei Scotts Dichtungen hineinlas. Ganz Europa stand unerschütterlich in dem Banne seines Könnens und verschlang gierig, was er bot. Ein Pseudohistorizismus spannte um die Gebildetsten aller Nationen seine Netze. Es war ein Sieg von unheimlicher Gewalt.
Er kann nicht unbegreiflich erscheinen. Da man so viel Geschichte miterlebt hatte, wollte man selbst deren längstvergessene Phasen wieder an sich vorüberziehen sehen. Und so mußten Richard Löwenherz, Karl der Kühne, Ludwig XI., Cromwell u. v. a. aus ihren Gräbern emporsteigen und in künstlerischer Vollendung zu den Lesern sprechen.
Das waren die zweifachen Folgen der Niederlage Napoleons; einmal die Abschüttelung des unerträglich gewordenen geistigen Joches, die Befreiung von überlebten künstlerischen Richtungen, die der Kaiser favorisiert hatte, dann die Befruchtung der Poesie durch die Geschichte. Die zweitgenannte Wirkung war vielleicht noch intensiver und weiterreichend als die erste. Denn nun brauste durch ganz Europa der Chor der epischen Geschichtsschreiber oder geschichteschreibenden Epiker, denen keine historische Figur und Begebenheit zu unbedeutend schien, um sie nicht in dichterischer Verkleidung auferstehen zu lassen.
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