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Gegenüber Arbeitnehmern, die unmittelbar vor der Beschäftigung langzeitarbeitslosi.S.d. § 18 Abs. 1 SGB III waren, besteht in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung keine Pflicht zur Entrichtung des Mindestlohns, § 22 Abs. 4 Satz 1 MiLoG.40 Hierdurch soll diesen der Wiedereinstieg ins Berufsleben erleichtert werden.41 Als langzeitarbeitslos gelten diejenigen Personen, die seit mindestens einem Jahr nicht in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehen,42 §§ 16, 18 SGB III. Unmittelbarkeit erfordert, dass zwischen Langzeitarbeitslosigkeit und Arbeitsaufnahme keine zeitliche Lücke oder sonstige Beschäftigung stehen darf,43 die Arbeitslosigkeit also durch das Arbeitsverhältnis beendet werden muss. Eine Offenbarungspflicht des Bewerbers besteht nicht; der Arbeitgeber darf jedoch nach der Langzeitarbeitslosigkeit fragen.44 Die Lohnuntergrenze in den ersten sechs Monaten wird durch die Sittenwidrigkeit gezogen, sodass mindestens 2/3 des Mindestlohns zu zahlen sind (s. Rn. 16 ff.).45
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Das MiLoG statuiert das Arbeitsortsprinzip. Alle Arbeitgeber, die einen Arbeitnehmer im deutschen Inland beschäftigen, unterfallen dem Anwendungsbereich des Gesetzes, § 20 MiLoG. Erfasst werden somit auch von einem Arbeitgeber mit Sitz im Ausland nach Deutschland entsandteArbeitnehmer. Die Regelungen des MiLoG zur Festlegung des Mindestlohns stellen insoweit Eingriffsnormen i.S.d. Art. 9 Rom I-VO dar.46 Ob auch im reinen Transitverkehragierende Arbeitnehmer, also solche, die die Bundesrepublik im Rahmen ihrer Tätigkeit lediglich durchqueren, einen Anspruch auf den deutschen gesetzlichen Mindestlohn haben, ist noch nicht abschließend geklärt.47 Es bestehen Bedenken einer ungerechtfertigten Beschränkung der unionsrechtlichen Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit, vgl. Art. 56 ff., 28 ff. AEUV, weshalb die EU-Kommission am 21.1.2015 ein – gegenwärtig noch nicht abgeschlossenes – Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet hatte.48 Die Bundesregierung hat daraufhin die nationalen Mindestlohnkontrollen nach den §§ 14 ff. MiLoG hinsichtlich der Transitfahrten ausgesetzt.49 All diese Bedenken gelten nicht für die Karbotagebeförderung– bei der ein Arbeitgeber mit Sitz im Ausland Transportdienstleistungen innerhalb Deutschlands vollbringt –, für die der Anwendungsbereich des MiLoG eröffnet bleibt.50 Von einem deutschen Arbeitgeber ins Ausland entsandteArbeitnehmer haben solange Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn, wie deutsches Arbeitsrecht Anwendung findet und kein weiteres, nicht mehr dem deutschen Recht unterfallendes, Arbeitsverhältnis begründet wurde, Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO.51
2. Verhältnis zu anderen Mindestlohnregelungen
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Branchenmindestlöhne,52 die nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz,53 dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz54 oder nach auf deren Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen festgesetzt wurden, gehen dem MiLoG vor, soweit sie die Höhe des Mindestlohns nicht unterschreiten, § 1 Abs. 3 MiLoG. Derartige Kollektivregelungen bestehen im Bereich des Baugewerbes, der beruflichen Aus- und Weiterbildung, des Dachdeckerhandwerks, der Elektrohandwerke, des Gebäudereinigerhandwerks, der Geld- und Wertdienste, des Gerüstbauerhandwerks, des Maler- und Lackiererhandwerks, der Pflegebranche sowie des Steinmetz- und Bildhauerhandwerks.55 Vorrang haben außerdem die nach § 5 TVG56 für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge des Baugewerbes i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 1 sowie §§ 5, 6 Abs. 2 AEntG, vgl. § 1 Abs. 3 Satz 2 MiLoG. Die Subsidiarität ist allumfassend, sodass in Fragen der Entgeltgestaltung – wie etwa der Fälligkeit, des Verzichts, der Verwirkung und der Ausschlussfristen – zunächst die branchenspezifischen Mindestlohnnormen maßgeblich sind.57
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Tarifverträge, die den gesetzlichen Mindestlohn unterschreiten, werden grundsätzlich durch das MiLoG insoweit verdrängt, §§ 20, 1 MiLoG. Dies gilt insbesondere auch für beschäftigungssichernde Tarifverträge sowie Sanierungstarifverträge.58
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Die Tariftreuegesetze der Länder, die dem Arbeitgeber bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen die Verpflichtung auferlegen, einen landesspezifischen Vergabemindestlohn59 zu zahlen, werden vom MiLoG nicht tangiert. Die einzelnen Bundesländer sind zum Erlass derartiger Regelungen befugt, da der Bund mit dem Mindestlohngesetz lediglich von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG (Arbeitsrecht) Gebrauch gemacht hat, die Landestariftreuegesetze jedoch dem Recht der Wirtschaft nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG unterfallen.60
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§ 24 Abs. 1 MiLoG, der eine Tariföffnungsklausel darstellt,61 enthielt eine Übergangsregelung für Branchenmindestlöhne nach dem AEntG oder AÜG.62 Diese durften bis zum 31.12.2017 die Mindestlohngrenze unterschreiten. Ab dem 1.1.2017 mussten sie jedoch mindestens ein Entgelt von brutto 8,50 EUR je Zeitstunde vorsehen. Dies ist deswegen relevant, da der gesetzliche Mindestlohn zu diesem Datum auf brutto 8,84 EUR angehoben wurde.63 Mit Ablauf des 31.12.2017 trat die Übergangsregelung außer Kraft.64 Mittels dieser Norm sollten sachnahen und für die Branche repräsentativen Tarifpartnern die Möglichkeit gegeben werden, abweichende branchenspezifische Mindestlöhne zu bestimmen, um hierdurch die Entlohnungsbedingungen stufenweise auf das Niveau des allgemeinen Mindestlohns anzuheben.65
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In § 24 Abs. 2 MiLoG befand sich eine weitere Übergangsregelung speziell für Zeitungszusteller.66 Diese hatten ab dem 1.1.2015 einen Anspruch auf 75 Prozent und ab dem 1.1.2016 auf 85 Prozent des jeweils aktuell festgesetzten gesetzlichen Mindestlohns. Vom 1.1.2017 bis zum 31.12.2017 war ihnen zumindest ein Mindestlohn von brutto 8,50 EUR zu zahlen.67 Anschließend trat die Übergangsregelung außer Kraft.68 Die Norm diente dem Schutz der Pressefreiheit, da die mit der Einführung des Mindestlohns einhergehenden Mehrkosten, insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen, die Trägerzustellung beeinträchtigen könnten.69 Zeitungszusteller ist nach § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG, wer in einem Arbeitsverhältnis ausschließlich periodisch Zeitungen, Zeitschriften oder Anzeigeblätter mit redaktionellem Inhalt an Endkunden zustellt. Die Ausnahme griff nicht für Briefzusteller, da diese auch Brief- und Paketpost übermitteln.70 Gleiches gilt für Personen, die Werbeblätter verteilen – und zwar unabhängig davon, ob diese einzeln oder zusammen mit anderen Wurfsendungen zugestellt werden.71
4. Sittenwidrige Lohnabreden
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Die Sittenwidrigkeitsrechtsprechung des BAG zu § 138 BGB bleibt neben dem Mindestlohngesetz weiterhin anwendbar.72 Der Mindestlohn bildet eine abstrakte, grundsätzlich nicht dispositive Lohnuntergrenze, während § 138 BGB auf das konkrete Missverhältnis von Entlohnung und Arbeitsleistung abstellt.
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Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, inwieweit eine unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegende Vergütungsittenkonform ist. Das MiLoG selbst lässt in den §§ 22 und 24 Ausnahmen von der Mindestlohnpflicht zu, sodass der Gesetzgeber Entlohnungen unter der mindestlohnrechtlichen Grenze von gegenwärtig brutto 9,19 EUR nicht per se als rechtswidrig erachtet haben kann. Wendet man die üblichen Kriterien der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 138 BGB73 an, liegt die regelmäßige Annahme einer Sittenwidrigkeitsgrenze im Niedriglohnsektor bei 2/3 des Mindestlohnsnahe.74 Teile der Literatur stellen dagegen mit dem Argument des Würdeschutzes unter Bezugnahme auf § 24 Abs. 2 MiLoG auf eine höhere 75 %-Grenze ab.75 Andere fordern, unter Rückgriff auf das Berufsbildungsrecht, sogar die Etablierung einer 80 %-Schwelle.76 Wird die Sittenwidrigkeitsgrenze unterschritten, ist die Lohnabrede nach § 138 BGB unwirksam, mit der Folge, dass dem Arbeitnehmer gemäß § 612 BGB nicht nur der Mindestlohn, sondern die übliche Vergütung zusteht.77 Diese wird häufig über dem Mindestlohnniveau liegen und die Höhe des Tariflohns erreichen.
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