»Wie konntest du nur dieses Ding benutzen«, schrie die Rätin. »Es hat das große Beben in San Francisco von 1906 ausgelöst. Hat das nicht gereicht?«
»Weil es falsch angewendet wurde«, konterte Leonardo.
»Ach, und jetzt scheint es besser zu funktionieren?« Johanna ging in die Knie. »Der Mechanismus ist in Ordnung. Es hätte reagieren müssen.« Mit den Fingern strich sie über jene Stelle auf dem Holz, die auch der Unsterbliche zuvor berührt hatte.
Clara hielt den Atem an. Einmal mehr wurde ihr bewusst, dass sie in den Augen der Räte alle nur unbedarfte Kinder waren, kaum mehr sein konnten. Johanna von Orléans und Leonardo da Vinci hatten wichtige Punkte der Menschheitsgeschichte miterlebt. Das hatte sie geformt. Sie starrte auf das Artefakt. Natürlich wusste sie um das große Beben von San Francisco. Dass Magie es ausgelöst hatte, war ihr jedoch neu.
Vielleicht sollte ich doch mal eine Vorlesung in magischer Geschichte belegen.
Im Inneren des Artefaktes hatte sich das Bild gefestigt. Nun begann die Sphäre, die es umgab, zu schrumpfen. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, zu begreifen, was mit dem realen Abbild geschah, das irgendwo dort draußen existierte.
Clara umklammerte den Kontaktstein. »Bitte nicht.«
Johanna runzelte die Stirn. »Jemand hat daran rumgespielt«, sagte sie leise. »Schau, hier.«
Leonardo stutzte. »Tatsächlich. Aber wieso ist das niemandem aufgefallen? Jedes Artefakt wird untersucht, gereinigt und gesichert, bevor es eingelagert wird.«
»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Da wir nicht wissen, wann es geschehen ist, lässt sich das kaum feststellen. Aber eines ist sicher: Ich kann das nicht lösen.«
Leonardo schüttelte den Kopf. »Dito. Ist Einstein im Castillo?«
»Nein. Unterwegs.«
Clara wurde immer unruhiger.
Schließlich stand die Rätin auf. »Wir können nichts tun.« Sie schaute betrübt zu ihnen herüber. »Das Artefakt wird den Zauber vollenden, unaufhaltsam. Uns bleibt nur zu hoffen, dass Jen und Kevin die beiden rechtzeitig finden und herausholen. Andernfalls …«
Sie ließ die Worte unausgesprochen, doch Clara vollendete sie in Gedanken.
Andernfalls werden vier weitere Sigile sich einen Erben suchen müssen.
Jen reagierte.
Wenige Schritte brachten sie zur Brüstung. Sie gab einem der Kuttenträger einen Stoß, dieser fiel mit rudernden Armen nach vorne. Es krachte, als er auf dem Boden aufschlug, eine Blutlache breitete sich unter seinem Körper aus. Der bisher harmonische Singsang war plötzlich von Dissonanzen durchsetzt. Das Sigil pulsierte wieder kräftig, ihre Magie erwachte.
Ein Blick zu Kevin, und sie atmete auf. Er war soeben dabei, die Verbindung zu Chris zu kappen.
Jen schwang sich ebenfalls über die Brüstung, rollte sich ab und kam gekonnt auf. In einiger Entfernung hob einer der Kampfmönche die magische Klinge. Sie schleuderte einen Kraftschlag, der das Mordinstrument davonkatapultierte. »Das brauchst du nicht mehr!«
»Ah, Jennifer Danvers«, sagte der Unbekannte.
»Und mit welchem Meuchelmörder habe ich das Vergnügen?«
»Mein Name ist Huan«, kam es zurück. »Ich hege keinen Groll gegen dich oder die Deinen. Nur dieser hier wird sterben.« Dabei deutete er auf Alexander. »Sein Sigil muss aus dem Kreislauf getilgt werden.«
»Auch wenn ich das Grundgefühl nachvollziehen kann – ich will ihn manchmal auch erwürgen –, kann ich das nicht zulassen.«
Aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass Kevin ebenfalls hinabsprang und zu seinem Bruder hetzte. Auf einem Buchaltar, der ein wenig versetzt im Schatten stand, sah Jen den Folianten. Er lag aufgeschlagen in Sichtweite. Die Oberfläche schien leicht zu wabern, die Buchstaben bewegten sich, als wollten sie ein Eigenleben entwickeln.
Sie erschauderte.
»Wir werden künftig auf den Folianten achtgeben. In ihm sind die Prophezeiungen des letzten Sehers verwahrt, niedergeschrieben von eigener Hand. Joshua sah, was dereinst kommen würde. Doch damit schuf er eine Gefahr. Der Foliant birgt das Potenzial in sich, den Wall zu Fall zu bringen«, sagte Huan. Seine rechte Hand vollführte eine kreisende Bewegung, die Klinge flog herbei. »Geht oder sterbt.«
»Weder noch«, erklärte Jen. »Ich nehme immer den dritten Weg. Ist so ein Tick von mir.«
Die Klinge wirbelte durch die Luft. Ihr gelang es gerade so, den Essenzstab zu verwenden, um die Attacke zu blockieren. Stahl traf auf verzaubertes Holz. Die Klinge glitt davon ab. Weitere Angriffe folgten kurz nacheinander. Jen blieb keine Zeit, Magie offensiv einzusetzen, sie wich kontinuierlich zurück.
Gleichzeitig griffen zwei Mönche Kevin an, der sich schützend vor dem bewusstlosen Chris postierte. Beide glichen Huan, als seien sie Drillinge.
»Ihr seid nur ein Wimpernschlag in der Zeit, ohne Wissen über das, was geschah, geschieht und geschehen wird«, orakelte der Mönch.
Jen bekam bei solchem Geschwafel Kopfschmerzen. Schon in der Vorlesung zum Thema Prophezeiungen – hier und da vertiefte sie ebenfalls das ererbte Wissen in der Akademie – hatte sie meist geschlafen; nachdem sie einen Kopfschmerzzauber genutzt hatte, um die Folgen loszuwerden.
»Die Zeit ist …«
»Ich werfe mich gleich freiwillig in deine Klinge«, sagte sie.
Auf dem Altar versuchte Alex, sich von seinen unsichtbaren Fesseln zu befreien. Doch seine Finger waren so fixiert, dass er kein Machtsymbol zeichnen konnte.
»Du bist ein vorlautes Kind, nicht mehr.« Huan stieß mit der Klinge zu, gleichzeitig vollführte seine andere Hand wieder diese kreiselnde Bewegung.
Jen wurde von einer unsichtbaren Kraft durch die Luft geschleudert, knallte gegen eine der Säulen und fiel zu Boden. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen. Ihr Essenzstab rollte davon.
Seltsamerweise – Jen konnte später nicht mehr sagen, weshalb – glitt ihr Blick in die Höhe. Die singenden Mönche gaben alles, doch die Magiedämpfung schien durch den Ausfall eines einzigen vollständig aufgehoben. Während Verwirrung und Ablenkung herrschten, trat eine der Statuen, die auf der Galerie überall in den Stein gehauen standen, von ihrem Podest. Brauner Sandstein bröckelte ab, als sei er nicht mehr denn eine hauchdünne Schale. Darunter kam eine Frau hervor.
Sie bestand von oben bis unten aus einem einzigen Schatten. Ein dunkles Nebelfeld bildete sich, umhüllte die Silhouette und entzog sie so Jens Blick. Natürlich wusste sie, wer die Unbekannte war. Wer wusste das nicht?!
Die Schattenfrau.
Seit Jahren trieb sie ihr Unwesen, losgelöst von jeder Fraktion. Sie entkam jeder Jagd, umging jede Falle, tat, was immer sie tun wollte.
Huans Klinge fuhr herab.
Jen rollte sich zur Seite, sprang auf. Ihr Essenzstab lag zu weit entfernt. Sie hetzte zum Altar. Kevin erwehrte sich mit Stab und Magie bravourös seiner beiden Angreifer. Ewig konnte er das jedoch nicht durchhalten.
Bevor sie den Altar erreichte, begann die Erde zu beben. Verblüfft hielt sie inne. In Huans Gesicht zeichnete sich blanke Panik ab. Steinplatten lösten sich von den Wänden, krachten seitlich zu Boden. Risse bildeten sich im Untergrund. Teile der Galerie brachen heraus.
Kevin nutzte die neue Situation sofort aus. Er schoss einen Kraftschlag gegen einen seiner Angreifer. Der wurde erfasst, durch die Luft gewirbelt und landete unter einem herabfallenden Steinquader. Es knirschte widerlich, als er darunter zerquetscht wurde.
Im gleichen Augenblick bäumten sich der verbliebene Angreifer und Huan gepeinigt auf.
Sind das etwa wirklich Drillinge?
Kevin schlug dem letzten Drillingsmönch klassisch die Faust gegen das Kinn, worauf dieser bewusstlos zu Boden fiel. Er rannte zurück zu seinem Bruder.
All das geschah in Sekunden.
Jen wollte bereits zum Altar weitereilen, wurde aber durch ein weiteres Beben von den Füßen gerissen. Unter ihr entstand ein Spalt. Im letzten Augenblick rollte sie zur Seite, vermied den Sturz in den sicheren Tod.
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