Noch niemals in ihrer langjährigen Lehrerinnenlaufbahn sind ihr Kinder wie diese beiden untergekommen! Weder jammern sie wie die anderen Kinder über die gestellten Aufgaben oder bohren während des Unterrichts in der Nase, noch kommen sie zu spät oder vergessen die Hausaufgaben, nein, viel, viel schlimmer: Sie teilen ein Geheimnis! Und das, davon ist sie felsenfest überzeugt, steckt in diesem vermaledeiten blauen Eimer!
Schnaubend sinkt sie im noch leeren Klassenzimmer auf ihren Stuhl hinter dem Pult, wobei der Knopf ihres Rocks abspringt und munter auf dem Boden klimpert. Oh, sie könnte schier platzen vor Wut!
Jetzt ist es genug, so geht das nicht weiter! Sie wird nun runter ins Sekretariat gehen und Jupps Mutter anrufen. Und dann wird sie Frau Kaat ein für alle Mal klarmachen, dass sie hier kein Angelgeschäft führe, in dem Eimer einfach so herumgetragen werden, sondern dass sie eine ordentliche Klasse in einer Dorfschule leite, in der Kinder das tun, was sie von ihnen verlange. Und vor allem: keine Geheimnisse vor ihr haben!
Im Sekretariat wählt sie zitternd die Nummer von Jupps Mutter und klopft beim Klingelzeichen ungeduldig mit ihren Fingernägeln auf die Tischplatte.
Aber dann, ausgerechnet in dem Moment, als Jupps Mutter sich freundlich meldet, beobachtet Frau Gruber durchs Fenster, wie draußen Greta und Jupp ihre Köpfe zusammenstecken und langsam das Tuch vom blauen Eimer lupfen ...
„Hallo?“, dringt es aus dem Hörer.
„Ähhh, Frau Kaat“, fängt Frau Gruber an zu stottern und beißt sich dabei erneut auf ihre noch immer angeschwollene Zunge. „Aua, verdammt! Äh, tssschuldigung, Frau Kaat! Hier sssspricht Frau Gruber aussss der Ssschule und esss hat ssssich ssschon erledigt. Jupp issst ein ganzzz netter Junge und ssssehr talentiert. Dasss wollte ich nur sssagen. Auf Wiederhören.“ Sie drückt schnell die Auflegetaste, tippelt zum gekippten Fenster und stellt die Ohren auf wie ein Feldhase.
„Ist er nicht süß“, vernimmt sie Gretas helle Stimme.
Ausgerechnet da klingelt das Telefon. Das gibt es doch einfach nicht!
Schimpfend tapst sie zum Schreibtisch zurück, um den Anruf abzulehnen, doch der auf laut gestellte Anrufbeantworter springt bereits an.
„Guten Tag, hier ist Siebert, Installateur Siebert. Wegen der Klo... äh ... Toilettenreparatur, da könnte ich ... hmm ... da möchte ich Ihnen folgende Termine ... also, folgende Termine kann ich ...“
Frau Gruber rollt mit den Augen, zieht den Stecker aus der Buchse und huscht zum Fenster zurück. Wie nur kann sie herausfinden, was diese beiden Kinder vor ihr verheimlichen?
Sie könnte doch, so überlegt sie, einfach behaupten, der Eimer sei gefährlich. Nur weil Jupp aussieht wie ein Engel, heißt das schließlich noch lange nicht, dass er auch einer ist.
Unterdessen liegt Star Wars träumend im Eimer in seinem Nest aus Heu. Greta beobachtet entzückt, wie seine winzigen Mundwinkel zucken und er im Schlaf lächelt. Doch dann wandern ihre Gedanken zurück zum bösen Flattergeist. Wie schauerlich der kleine Geist im Kastanienbaum gequiekt hat, als er von ihm fortgerissen wurde ...
„Was ist?“, fragt Jupp besorgt. „Du siehst plötzlich traurig aus.“
„Ach“, antwortet Greta, legt vorsichtig das Tuch zurück über den Eimer und erzählt Jupp von ihrem nächtlichen Erlebnis. „Stell dir nur mal vor, der böse Flattergeist würde auch Star Wars klauen!“
Sie macht eine kleine Pause und seufzt. „Gestern noch habe ich mir gewünscht, dass er zu mir nach Hause aufs Dach fliegt. Aber heute denke ich: Genau davon müssen wir ihn abhalten, Jupp. Der Flattergeist ist eine Gefahr für ihn.“ Sie sieht ihren Freund eindringlich an. „Verstehst du, Jupp? Er klaut Geister!“
Jupp verzieht nachdenklich seinen Mund. „Vielleicht war der Geist im Kastanienbaum sein Sohn und er ist zu einer Flugrunde ausgerückt, ohne vorher seinen Vater zu fragen ...“
„Das glaube ich nicht“, entgegnet Greta. „Der Flattergeist war zu böse und zu grob, um sein Vater zu sein.“
In diesem Augenblick ertönt direkt über ihnen Frau Grubers aufgekratzte Stimme. „Gretaaaa, meinst du wirklich, Jupp interessiert sich für deine Geistergeschichten?“ Ein falsches Lächeln umspielt ihre Lippen. „Wir haben doch vereinbart, dass du damit aufhörst und dich endlich wie ein Schulkind benimmst.“ Sie beugt sich herab, fasst einen Tuchzipfel und beginnt, langsam daran zu ziehen.
Greta und Jupp werfen sich einen alarmierten Blick zu.
„Frau Gruber, das dürfen Sie nicht!“, ruft Greta aufgebracht.
Frau Gruber zieht die Augenbrauen hoch und versucht, einen einschüchternden Blick aufzulegen, so wie die Kommissarinnen im Fernsehen es immer machen. Ohne Brille würde das bestimmt auch gut klappen, aber nun ist dieses neue feuerrote Ding im Weg. Und es rutscht ständig. Der Optiker ist wirklich eine Niete.
„Ich muss kontrollieren, was in diesem Eimer steckt!“, schießt sie hervor.
„Warum?“, fragt Jupp und fasst nach dem Henkel. „Es ist mein Eimer!“
Doch Frau Gruber kommt ihm zuvor und greift ebenfalls nach dem Plastikgriff. Jupps Hand landet neben ihrer. Beide halten den Henkel umklammert und lassen nicht locker.
„Lass den Eimer los, Jupp!“, fordert Frau Gruber.
„Nein. Lassen Sie los! Er gehört mir!“, kontert Jupp.
„Aber nicht in meiner Schule!“
„Es ist Jupps Eimer!“, ruft Greta dazwischen. „Aber nicht Ihre Schule!“
Da lässt Frau Gruber plötzlich den Eimer los und klatscht mit der flachen Hand auf ihren nackten Oberarm. „Aua!“, kreischt sie. „Mich hat was gestochen!“
Greta und Jupp aber starren mit offenen Mündern nach unten. Der Eimer ist leer, bis auf ...
„HEU?“, japst Frau Gruber enttäuscht. „Ihr habt nichts im Eimer versteckt außer HEU? Dummes Heu und SONST GAR NICHTS?“ Sie kneift wütend die Augen zusammen und ihre rote Brille macht sich wieder mal auf den Weg Richtung Nasenspitze. „Wollt ihr mich auf den Arm nehmen?“
„Nicht so gern“, stammelt Greta.
„Star Wars!“, ruft Jupp aufgebracht. „Sie haben Star Wars verjagt!“
Frau Gruber schmeißt den Kopf in den Nacken und schnappt sich den Eimer. „Star Wars? Ich glaube, ihr beide seht zu viel fern! Ich werde mal mit euren Eltern darüber sprechen.“
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Wütend blickt Greta ihr nach. „Sie hat was Hühnerartiges, findest du nicht auch, Jupp? Jupp?“ Sachte berührt sie seinen Arm. Er starrt noch immer ungläubig auf die Stelle, wo eben noch sein Eimer mit Star Wars gestanden hat. „Was sollen wir nun tun?“, fragt sie vorsichtig. „Frau Gruber ist so gemein, ich könnte platzen vor Wut.“
„Davon kommt Star Wars auch nicht wieder“, murmelt Jupp niedergeschlagen und sieht Greta eindringlich an. „Wir haben nur eine einzige Chance.“
„Und die wäre?“, möchte Greta wissen.
„Kandiszucker.“
„Kandiszucker?“ Greta sieht ihn an, als habe er Kuhmist gesagt. „Was soll das denn sein?“
Jupps Traurigkeit scheint verflogen. Mit wichtiger Miene kramt er in seiner Hosentasche.
„Hier“, sagt er, fasst Gretas Hand und legt drei hellbraune, kleine Brocken hinein. „Das ist Kandiszucker. Es ist das Geisterzaubermittel überhaupt! Wusstest du, dass Geister allgemein verrückt nach Zucker sind? Doch Kandiszucker, der ist wirklich das Allergrößte für sie! Der Rolls-Royce unter den Geistersüßigkeiten!“
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