„Genau darum haben wir nichts gesagt“, ertönte Shadows Stimme in meinem Kopf. „Wir wussten, dass es dich schockieren würde.“
Ich verstand es und ich war ihnen dankbar für ihre Rücksicht, aber das hätten sie mir erzählen müssen. Shadow entschuldigte sich. Ich zögerte, nahm die Entschuldigung aber an. Ich konnte den Fiorita sowieso nicht lange böse sein. Lloyd drückte mich fest an sich. „Ist ja gut“, redete er auf mich ein, während er mir über die Perücke strich. „Es ist deine Entscheidung. Du musst nicht, wenn du nicht willst. Und du musst auch nicht sofort mit ihr reden. Lass dir Zeit. Wir genießen erst mal diesen Tag, okay?“
Ich schniefte leise, nickte aber und erwiderte seine Umarmung. „Okay.“
Allerdings wollte ich meine Entscheidung nicht ändern. Ich hatte nichts mehr mit meinen Eltern oder meinem alten Beruf zu tun. Was auch immer im Bezirk der Ranger geschah, ich wollte es gar nicht hören. Es betraf mich nicht mehr. Mein Leben spielte sich ausschließlich in Renia ab.
Kapitel 4
Das Leben in Renia war schön und friedlich. Lloyds und mein Alltag drehte sich um Takuto, unsere Arbeit und die Fiorita. Wir blieben in ständigem Kontakt mit seinen Eltern sowie meinen Freunden. Es ging uns gut. Wir waren in Sicherheit.
Doch nur drei Monate nach unserem Treffen mit Fiona und Nico wurde mir klar, dass die räumliche Distanz zum Krieg in unserer Heimat nicht so viel brachte, wie ich mir gewünscht hatte. Wir waren zwar weit davon entfernt, steckten aber doch mittendrin.
„Sieh mal, Lloyd, sieh mal!“, lachte ich. „Takuto rutscht schon wieder auf dem Hintern durch die Küche.“
Mein Freund lief aus dem Wohnzimmer zu mir und brach ebenfalls in Gelächter aus. „Das ist einfach zu niedlich! Vor allem wenn er nur Windeln trägt! Das muss ich fotografieren.“
„Holst du dann auch seinen Strampelanzug?“, bat ich und rührte die köchelnde Tomatensoße um. „Es ist inzwischen abgekühlt.“ Tagsüber brachte uns der Frühling zwar angenehme Temperaturen, doch abends zog auch ich mir lieber eine Jacke über.
„Mach ich“, stimmte Lloyd zu und verließ die Küche.
Ich wandte mich wieder dem Herd zu. Das Essen musste jede Minute fertig sein. Nudeln, frisches Gemüse und Tomatensoße. Und Grießbrei für unseren Kleinen. Ich pustete mir eine nervige orange-braune Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor ich zu Takuto auf den Boden schaute. „Na, du?“, fragte ich. Er brabbelte etwas, das so ähnlich wie „Mama“ klang, quietschte fröhlich und strahlte mich an, wobei er auf sein Kinn sabberte. Lloyd hatte recht, unser Kind war einfach zu niedlich!
Ich genoss es richtig, dass wir heute Abend beide freihatten und ganz entspannt zu Hause essen konnten. Das kam nicht allzu oft vor.
„Perfekter Schnappschuss!“, jubelte Lloyd, nachdem er mit Kamera und Strampelanzug zurückgekommen war. „Ich ziehe Takuto schnell an. Der Tisch ist ja schon gedeckt.“
„Und dann gibt’s Essen“, ergänzte ich.
„Riecht sehr gut“, merkte er an und hauchte mir einen Kuss auf die Wange, dann machte er sich daran, unseren Sohn anzuziehen. Mit leicht geröteten Wangen lächelte ich. Ich liebte dieses friedliche Leben. Es war vielleicht nicht so aufregend wie meine Zeit als Ranger, aber es machte mich glücklich. Jeden Tag sah ich aufs Neue, wie Takuto wuchs und dazulernte. Inzwischen war er schon neun Monate alt. Leider fremdelte er noch, doch er konnte schon robben und sitzen.
Nach dem Essen, das Takuto teilweise auf den Tisch gespuckt hatte, brachte Lloyd den Kleinen ins Bett. Ich räumte die Küche auf, wobei mir mein Freund half, nachdem er aus dem Kinderzimmer wieder ins Erdgeschoss gekommen war.
„Wollen wir noch etwas fernsehen?“, schlug er vor, als alles sauber war.
Ich nickte. „Gerne.“
Wir kuschelten uns auf dem Sofa zusammen, Lloyd zappte wahllos durch die verschiedenen Programme. „Irgendwie läuft nichts Gutes.“
„Schade“, seufzte ich. „Was machen wir denn dann?“
„Mir fällt da was ein“, entgegnete er und grinste frech.
Noch bevor ich ihn fragen konnte, was er meinte, verwickelte er mich in einen unwiderstehlichen Kuss. Mit einem glücklichen Seufzen ließ ich mich mitreißen und legte meine Arme um seine Taille. Er küsste sich zu meinem Hals, sein warmer Atem fühlte sich glühend heiß auf meiner Haut an, dennoch bekam ich Gänsehaut.
„Wirklich eine gute Idee“, gab ich leise zu und fuhr ihm mit einer Hand durchs kurze Haar. Seit Takuto auf der Welt war, hatten wir nicht viele Gelegenheiten gehabt, uns näher zu kommen.
„Dachte ich mir“, lachte er und legte seine Lippen wieder sanft auf meine. Er kniete sich hin und drückte mich sanft rücklings aufs Sofa, ohne den Kuss zu lösen. Mit beiden Armen stützte er sich rechts und links von mir ab, bevor er noch schnell zur Fernbedienung griff, um das Gerät abzuschalten. Auch ich blickte kurz zum Fernseher, doch was ich sah, ließ mich erstarren. Im unteren Teil des Bildschirms war ein Schriftzug eingeblendet: Krieg fordert erstes Todesopfer.
„Warte mal!“, rief ich entsetzt. „Ist das nicht Windfeld?“
Lloyd runzelte die Stirn. „Ja, aber das sind Nachrichten. Warum ist Windfeld hier in den Nachrichten?“ Er drehte die Lautstärke etwas höher.
„... als Eskalation bezeichnen lässt“, erzählte der Nachrichtensprecher, der seinen ergrauten Haaren nach schon mindestens 50 Jahre alt war. „Erstmals kam es zu Opfern in den Reihen der Ranger.“
„Was?“, keuchte ich und setzte mich abrupt aufrecht hin. Ich beugte mich vor, die Ellbogen auf meine Knie abgestützt und die Finger fest ineinanderverhakt. Meine zuvor gute Stimmung war prompt umgeschlagen. „Bitte nicht, das kann nicht ...“
„Ein Hinterhalt der Schattenbringer führte zum Tod des dienstältesten Rangers von Windfeld“, fuhr der Mann fort. „Er wurde auf Patrouille mit dem Leiter der Zweigstelle überwältigt. Die Vermutung liegt nahe, dass der Stationsleiter das eigentliche Ziel des Anschlags war.“
Jedes weitere Wort wurde in meinen Ohren zu einem Rauschen. Ich konnte es nicht fassen. Betäubender Schmerz erfüllte meine Brust, ich zitterte am ganzen Körper. „Viktor“, wisperte ich. „Nein ...“
Lloyd umarmte mich fest, doch er schwieg. Er wusste wohl auch nicht, was er sagen sollte. Nach ein paar Sekunden der Stille schluchzte ich lauthals. Tränen stiegen mir in die Augen, Tränen der Trauer und Verzweiflung. Mein ehemaliger Kollege Viktor war tot. Wegen der Verbrecherorganisation, die mein Vater gegründet hatte.
„Kanntest du ihn gut?“, fragte Lloyd leise und strich mir mit einer Hand die Tränen weg.
Leise schniefend nickte ich. „Seit meinem ersten Arbeitstag in Windfeld. Er war so lieb. Und er hat immer erwähnt, dass er der Älteste ist. Und dass er in unserem Alter ganz anders war, so was eben ...“
Beruhigend rieb er mir über den Rücken. „Es tut mir so leid.“
„Du kannst nichts dafür“, schluchzte ich. „Papa ist es ... Papa ist schuld daran! Es hätte nie so weit kommen dürfen!“
„Die Situation wird immer schlimmer“, murmelte er. „Dass die Schattenbringer wirklich einen solchen Anschlag auf die Ranger geplant haben ...“
„Ulrich!“, fiel mir siedend heiß ein. „Bestimmt ist Ulrich noch in Gefahr, wenn sie es eigentlich auf den Stationsleiter von Windfeld abgesehen haben.“
„Nachdem sie den falschen Ranger erwischt haben, werden sie nicht sofort wieder angreifen“, vermutete mein Freund. „Aber irgendwann wird ...“
Ich klammerte mich an sein blaues T-Shirt, das Gesicht vergrub ich an seiner Brust. „Das ist so grausam!“
Sanft drückte er mich fester an sich. „Ja. Kann ich dir irgendwie helfen? Willst du einen Tee oder so?“
„Nein“, wimmerte ich. „Ich kann es einfach nicht fassen! Viktor ist wirklich ... er ist wirklich ...“ Ich spürte, dass es in meinem Inneren rumorte. Shadow schickte mir eine Warnung, ich solle mich nicht so sehr aufregen. Aber ich konnte mich nicht beruhigen, zu sehr schockierte mich diese Nachricht. Zu groß war die Trauer darüber. Ich schaffte es nicht mal, meine Tränen zu stoppen.
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