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Als Mila acht Jahre alt gewesen war, hatte ihre Mutter sie eines Tages gegen Mittag von der Schule abgeholt. Zu Hause angekommen hatte sie ihr die schlimme Nachricht überbracht, dass ihr Vater nie wieder nach Hause kommen würde. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten und konnte nicht rechtzeitig gerettet werden. Dieser Schock traf Mila schwer, denn sie liebte ihren Vater abgöttisch. Er hatte so viel mit ihr unternommen, ihr am Abend vor dem Schlafengehen immer eine Geschichte erzählt, ihr ein neues Fahrrad besorgt und es repariert, wenn es kaputt war. An seinem Tod hatte Mila sehr stark zu knabbern. Viele Jahre lang verfolgten sie Albträume, in denen sie immer wieder erleben musste, dass ihr Vater starb und sie allein zurückließ. Oftmals erschien ihr auch ein Wolf in ihren Träumen. Der Wolf sagte nichts. Er schaute sie nur an. Etliche Male hatte sie das Gefühl, aufzuwachen und das Tier wirklich in ihrem Zimmer stehen zu sehen. Es hatte sich angefühlt, als hätte er sie aus dem schlechten Traum herausgerissen und somit gerettet.
Mittlerweile war Mila erwachsen und wusste ganz genau, dass es nur Träume waren und nicht die Wirklichkeit. Sie glaubte zwar an Geister, Engel und Gott und irgendwie verhalf ihr dieser starke Glaube an das Übernatürliche, diesen Schmerz zu überwinden, doch sie hatte – abgesehen von dem Wolf in ihrem Kinderzimmer – nie etwas Übernatürliches wahrgenommen. Nach wie vor vermisste sie ihren Vater jeden Tag. Man sagte immer, dass die Zeit alle Wunden heile, doch auf Mila traf dies nicht zu, denn dieser Verlust tat ihr noch immer sehr weh.
Sie erinnerte sich, dass ihr Vater ab und zu für ihre Mutter und Freunde Tarotkarten gelegt und ihnen die Zukunft vorausgesagt hatte. Zudem erinnerte sie sich daran, dass er ihr – nachdem er seine eigene Zukunft gelesen hatte – mal zugeflüstert hatte, dass er immer über sie wachen würde, wenn er im Himmel lebte.
Als sie sich das in Erinnerung rief, brach sie in Tränen aus. Hatte er etwa seinen eigenen Tod in den Karten gesehen? Nachdem er verstorben war, hatte sich ihre Mutter ganz fest an diese Karten geklammert und ebenfalls versucht, sie zu legen und zu deuten, doch sie hatte nicht die Begabung ihres Mannes, sodass sie die Karten irgendwann in ihrem Nachttisch verstaut und nicht wieder hervorgeholt hatte. Mila hingegen hatte das Kartenset oft zusammen mit ihrer Schulfreundin Lilia benutzt. Im Internet hatten sie verschiedene Legetechniken gefunden, die sie nach Anleitung angewendet hatten, doch nur selten war etwas von dem, was sie gedeutet hatten, eingetroffen.
Schluchzend wischte Mila sich die Tränen von den Wangen und schleppte sich zitternd mit dem schmalen Karton in der Hand zum Bett. Die Decke und das Kissen schob sie forsch beiseite und holte die Karten zusammen mit dem Anleitungsbuch heraus, welches sie zu studieren begann. Es dauerte eine Weile, bis sie die einfachste Legetechnik begriffen hatte, dann nahm sie die Karte der »weiblichen Person« – in diesem Fall sie selbst – heraus und mischte den Stapel. Mit der linken Hand – der Hand des Herzens – bildete sie vier verdeckte Kartenhäufchen. Nach Anleitung des Buches wählte sie zufällig Karten von den Stapeln aus, die sie schematisch um die »weibliche Person« legte.
Zwölf Karten lagen nun vor ihr. Zuerst deckte sie die waagerechte Reihe um die Hauptkarte auf. Nun begann sie die Kartenkombinationen aus dem Buch herauszusuchen, denn die verrieten ihr, was passiert war und was noch passieren würde.
»Ich habe etwas Neues geschaffen. Ob es da um die Beziehung zu Jerrik geht?«, murmelte Mila nachdenklich und blätterte weiter.
»Ich bin in einem großen Haus … damit könnte vielleicht Jerriks Haus gemeint sein«, flüsterte sie.
»Ich bekomme Bauchschmerzen? Vielleicht deutet das auf eine Krankheit oder gar Stress hin?« Skeptisch den Kopf schüttelnd humpelte sie zu ihrem Schreibtisch und goss sich etwas Orangensaft in ein Glas, dann hinkte sie zurück und setzte sich wieder auf das Bett zu den Karten. Nun drehte sie den Rest der Karten um und las darin, dass sie ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte. Sehnsüchtig und traurig schluckte sie einen dicken Kloß herunter, als sie an ihre Mutter dachte, und hielt kurz inne.
»Alles wird gut«, sagte sie selbstbewusst zu sich und begann, weitere Kombinationen zu deuten.
Die nächsten Karten verrieten ihr, dass sie in den kommenden drei Jahren würde viel Geduld aufbringen müssen. Was das wohl zu bedeuten hatte? Was genau ihr die Karten mitteilen wollten, war ihr noch nicht ganz klar, doch sie hatte das Gefühl, dass das, was sie da lesen konnte, auf jeden Fall eintreffen würde. Ganz besonders ins Grübeln brachte sie die Bedeutung von zwei Karten, die ihr sagten, sie würde die Bindung zu jemandem verlieren. Ob damit die Bindung zu Jerrik gemeint war? Diese Bedeutung ließ sie im Raum stehen, denn sie wollte nicht daran denken, ihn jemals zu verlieren.
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