Beziehungsbedürfnisse
Der hier geschilderte Ansatz des emotionalen Alters oder auch des sozioemotionalen Entwicklungsstandes geht von den Beziehungsbedürfnissen eines Menschen aus, d. h. von seinen Bedürfnissen in Bezug auf die Beziehungsgestaltung. Diese sind phasenspezifisch, sie verändern sich in unterschiedlichen Entwicklungsphasen eines Menschen. Und es bedarf eines differenzierten entwicklungspsychologischen Fachwissens, um diese jeweils dominierenden Beziehungsbedürfnisse hinreichend zu erkennen.
fünf Phasen
Der Ansatz von Anton Došen und seinen Mitarbeitern differenziert nun zunächst fünf Phasen und unterscheidet darin die Beziehungsbedürftigkeit eines Säuglings bzw. Kleinkindes im Alter bis zu 6 Monaten, bis zu 18 Monaten, dann bis zu 3 Jahren, bis zu 7 Jahren und bis zum Lebensalter von 12 Jahren. Diese Phasen bilden die Kategorien SEO I bis V:
SEO I: |
0 bis 6 Monate: erste Adaptation, |
SEO II: |
6 bis 18 Monate: erste Sozialisation, |
SEO III: |
1 ½ bis 3 Jahre: erste Individuation, |
SEO IV: |
3 bis 7 Jahre: erste Identifikation, |
SEO V: |
7 bis 12 Jahre: Entwicklung von Realitätsbewusstsein. |
Verständnis durch Wissen um Beziehungsbedürfnisse
Dieses Konzept wird ständig weiterentwickelt und hat insbesondere als sogenanntes SEED eine vereinfachte Handhabbarkeit erlangt. 12Im Folgenden soll dieser Ansatz, der die Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf insbesondere im Zusammenhang mit herausforderndem Verhalten fördern und erleichtern soll, kurz dargestellt werden.
Der Grundgedanke ist, dass Menschen mit Intelligenzminderung aus ihren phasenspezifischen Beziehungsbedürfnissen heraus entsprechend ihrer sozio-emotionalen Entwicklung verstanden werden können. Dazu ist ein Wissen über die generellen Entwicklungsstufen nötig. Im heilpädagogischen wie im sozialtherapeutischen Alltag können »Entwicklungsverzögerungen« auf diese Weise konkret und differenziert beschrieben werden, sodass es möglich wird, auf diesem Fundament ein geeignetes therapeutisches Milieu zu gestalten.
Die vollständige korrekte Anwendung dieses Ansatzes bedarf einer spezifischen Vorbereitung sowie unter anderem eines strukturierten Interviews. 13
Trotzdem sollen hier kurz einige grundlegende Gesichtspunkte genannt werden, die ausgesprochen hilfreich für das Verständnis der Entwicklungsphasen von Menschen mit Assistenzbedarf sein können.
Dazu lösen wir uns vom tatsächlichen biologischen Lebensalter und versuchen, das emotionale Entwicklungsalter beobachtend zu verstehen – vornehmlich unter dem Aspekt der jeweiligen Beziehungsbedürftigkeit.
sensibel für atmosphärisches Umfeld
Regulation körperlicher Bedürfnisse
•Menschen im Entwicklungsalter des ersten Lebenshalbjahres (SEO I) haben eine besondere Sensibilität für das atmosphärische Umfeld. Vor diesem Hintergrund ist die Wahrnehmung im Wesentlichen auf den Körper und die nähere Umgebung bezogen, und ein Kontakt zur Außenwelt erfolgt vornehmlich über die Regulation körperlicher Bedürfnisse. Es bedarf hier einer größtmöglichen Konstanz in der räumlichen Umgebung und vornehmlich in der Gewährung von Vertrautheit durch eine Bezugsperson.
Bei Überforderungen können Verhaltensstereotypien auftreten, auch schnell einschießende Erregungszustände mit Wutausbrüchen, schweren Selbstverletzungen und sachaggressivem Verhalten.
Zustände von Unwohlsein schnell erkennen
Ein Mensch in diesem Entwicklungsalter bedarf besonderer milieutherapeutischer Strukturen. So müssten pflegerische Tätigkeiten durch bewussten, einfühlenden und individuellen Beziehungsaufbau geschehen, in der Regel auch durch zentralen Körperkontakt. Es gilt, Sicherheit zu schaffen in den grundlegenden alltäglichen Notwendigkeiten wie Mahlzeiten und Hygiene. Weiterhin ist es wichtig, eine konsequente Reizregulation zu ermöglichen und Zustände von Unwohlsein schnell zu erkennen und entsprechend zu lindern. Außerdem sollte man darauf achten, regelmäßige Kontaktzeiten zu gewähren, aber auch zu begrenzen.
Förder- und Beschäftigungsbereich
•Ein Mensch im Entwicklungsalter bis zu ca. 1 ½ Jahren (SEO II) zeigt dann auch die Fähigkeit, in kleinen homogenen Gruppen verweilen zu können. Die Beschäftigung mit Materialien (Sand, Knete, Papier) beginnt. Das entspricht dem Niveau eines Förder- und Beschäftigungsbereichs.
Überforderungen würden sich hier zum Beispiel bei Menschen im Bereich der Sozialtherapie in Form von regressivem (»rückschrittlichem«) Verhalten, wie Kot schmieren oder Ähnliches, zeigen.
Eine milieutherapeutische Struktur in diesem Entwicklungsalter sollte eine Ritualisierung der Abläufe ermöglichen sowie die andauernde Verfügbarkeit einer Bezugsperson.
Weiter gilt es hier, für Pausen in vertrautem Milieu mit Entspannungsangeboten zu sorgen und erwünschtes Verhalten unmittelbar zu verstärken. In diesem Lebens- bzw. emotionalen Alter ist es oft noch sinnvoll, unübersichtliche und ausgedehnte größere Veranstaltungen, wie Konzerte oder Ähnliches, eher zu vermeiden oder gut äußerlich und innerlich zu begleiten oder aber ein solches Angebot so auf den Betroffenen zuzuschneiden, dass er es gut bewältigen kann.
wachsende persönliche Autonomie
•Im Entwicklungsalter bis zu 3 Jahren (SEO III) verfügt ein Mensch über wachsende persönliche Autonomie. Sogenannte Übergangsobjekte (Stofftiere, Puppen usw.) gewinnen wesentliche Bedeutung. Es wird wichtig, Fähigkeiten der Betroffenen hervorzuheben und durch die Umgebung anzuerkennen. In einer Verhaltenskonsolidierung gilt es, erwünschtes und sozial hilfreiches Verhalten zeitnah zu verstärken und zunehmend auch kognitiv zu bewältigen. Dieses Lebensalter bedarf noch stark der Begleitung einer vertrauten Bezugsperson in der »Eroberung« von zunehmend sich öffnenden sozialen Bereichen (Haus oder Werkstatt).
soziale Kompetenz
•Bei einem Menschen im sozio-emotionalen Entwicklungsalter von 3 bis ca. 7 Jahren (SEO IV) bildet sich zunehmend das Bedürfnis, soziale Kompetenz zu zeigen. Er strebt in eine »Peer-Group«, hält sich also gerne unter »Gleichaltrigen« auf; Regeln und Normen des sozialen Lebens werden zunehmend kognitiv erfasst.
Der Mensch mit Unterstützungsbedarf fragt nun nach der Förderung eigener Interessen. So können spezifische Gruppen etwa in der Freizeitgestaltung aufgesucht werden.
Für die Begleitung bedeutet das: Vorgeben und Supervision von Leitlinien für alle Bereiche des Alltags; zunehmend können Entscheidungsalternativen angeboten werden, um Ambivalenz zu vermeiden.
Orientierung ohne Gruppenführung
•Im sozio-emotionalen Lebensalter von 7 bis 12 Jahren (SEO V) entfaltet sich dann immer deutlicher die soziale Autonomie des Einzelnen – des Kindes in der Präpubertät bzw. des Menschen mit Unterstützungsbedarf, der vor dem Hintergrund dieser Entwicklungsphasen verstanden werden kann. Jetzt gelingt zunehmend auch eine anfängliche Orientierung ohne Gruppenführung. Der Betreuer als Ansprechpartner ist erreichbar bei Krisen, ambulante soziale Betreuung wird möglich, alltagsübliche Situationen können selbstständig bewältigt werden.
Individuelle Überforderung ist oft eine Grundlage von herausforderndem Verhalten. Die Kenntnis der hier skizzierten Stufen bzw. der phasenspezifischen Beziehungsbedürfnisse kann eine wesentliche Hilfe sein, Überforderungen zu vermeiden. Dies umso mehr, als sowohl in Wohngruppen wie in Werkstätten prinzipiell Menschen unterschiedlichster sozio-emotionaler Entwicklung leben. Eine genauere Kenntnis dieser Stufen ermöglicht die je spezifische Ansprache.
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