Ich stehe in der Badewanne und lasse mir warmes Wasser über den Körper laufe, um die Seife abzuspülen. Jemand drückt die Türschnalle hinunter, rüttelt an der altersschwachen Holztür. „Was soll denn das, das Zusperren! Das ist mein Haus, da dulde ich so was nicht!“ Papa brüllt. Ich beeile mich, aber das Wasser ist jetzt zu heiß. Es dauert eine Zeit lang, bis ich die richtige Temperatur eingestellt habe. An der Tür höre ich etwas schaben. Was macht Papa da? Versucht er, die Tür irgendwie aufzukriegen? Ich verstehe nicht, warum er mich nackt sehen will, was hat er davon?
Plötzlich fängt Mama draußen zu schreien an. „Du Drecksau!“, schreit sie. „Was fällt dir ein! Du lässt mir das Madl in Ruhe! Sonst …“ Ich höre Mama keuchen, und es klingt so, als würde sie Papa schlagen. Etwas poltert gegen die Tür. Ich drehe das Wasser ab, greife nach einem Handtuch, schlinge es um meinen Körper. „Was glaubst denn!“, schreit Papa zurück. „Einsperren gibt’s nicht! Das wär ja noch schöner!“ Mama heult und schimpft weiter, doch beider Stimmen entfernen sich. Der Streit ist jedoch noch nicht zu Ende, eine Tür schlägt zu, und ich höre ihre Stimmen gedämpft. Plötzlich schreit Mama auf, und dann ist alles still.
Ich trockne mich hastig ab, ziehe meine Unterwäsche über die noch feuchte Haut, darüber Jeans und Pullover, und haste in die Küche. Mama steht an der Abwasch und tut so, als ob nichts wäre. Sie wäscht Kartoffeln. Doch als ich näher komme, höre ich, dass sie leise vor sich hin wimmert. Die Haare hängen ihr ins Gesicht. „Geh!“, herrscht sie mich an. „Geh! Bist eh schuld an allem!“ Ich glaube, Mama ist verrückt geworden. An was soll ich denn schuld sein? Dass Papa durchs Schlüsselloch schaut, weil er mich nackt sehen will? „Soll ich dir helfen, beim Kochen?“, frage ich trotzdem. „Geh!“, schreit sie noch einmal, und ich gehe.
Gefühle darf ich mir in diesem Haus nicht mehr erlauben, sonst gehe ich verloren, denke ich. Ich öffne meine Schultasche und hole mein Geografiebuch heraus. Über Wüsten und Polargebiete lese ich da, Oasen und tropische Regenwälder. Wir lernen gerade von den Klimazonen der Erde. Und ich stelle mir das alles ganz genau vor: wie ich mit einem Hundeschlitten durch die Weite des grönländischen Inlandeises ziehe, immer auf den Nordpol zu. Ich kann mich auf die Hunde verlassen, niemand sonst ist in der Nähe. Niemand, mit dem man Streit anfangen könnte. Die Hunde lecken mir dankbar die Hände, wenn ich ihnen gefrorene Fleischbrocken hinwerfe, und bei Nacht kuschle ich mich zwischen ihre warmen Flanken. Dunkel wird es nicht, denn es ist Sommer, die tief stehende Sonne wirft glutrote Strahlen über uns. Und ich schlafe zwischen meinen Hunden ein.
Oder ich ziehe mit einer Machete durch den Regenwald. Angst muss ich nicht haben, denn auch die gefährlichen Tiere sind berechenbar: Sie greifen mich nur an, wenn sie sich selbst oder ihr Territorium verteidigen wollen. Ich baue mir nahe einer Lichtung ein Baumhaus, wie Robinson Crusoe. Ich habe das Buch vier- oder fünfmal gelesen. Robinson hatte auch nur sich selbst, zumindest bis Freitag zu ihm kam. An dieser Stelle höre ich immer zu lesen auf, mich interessiert nur der Teil, in dem Robinson ganz allein ist. Da ist niemand, vor dem er Angst haben muss. Er braucht auch niemandem zu vertrauen außer sich selbst. So möchte ich auch sein. Am liebsten wäre ich ganz allein. Tobi könnte ich mit mir nehmen, er braucht jemanden, der für ihn da ist. Dann wird er ganz ruhig werden, die bösen Träume werden verschwinden, und er wird nicht mehr ins Bett machen. Und mir vertrauen.
Am allerliebsten aber würde ich nach Amerika fahren und bei den Indianern leben. In einem Tipi oder einem Pueblo. Die Indianer leben mit der Natur, nehmen sich nur, was sie zum Überleben brauchen, und geben ihr alles zurück, was sie braucht. Harmonie nennt man das. Das ist etwas, das ich mir auch wünsche, sehnlich. Ich habe einen Kalender unter dem Bett, mit Bildern von Canyons und Felslandschaften, alles ist in orangerotes Licht getaucht. Auf zwei Bildern sieht man Indianer, die ganz ruhig, gelassen in die Ferne blicken. Sie sehen nicht aus wie die Indianer aus den Westernfilmen, die Frau trägt ein weißes T-Shirt, Jeans und Silberschmuck in den Ohren. Der Mann ist dick, hat ein rundes Gesicht und lächelt sanft. Sie haben keine Angst. Ich bin mir sicher, dort finde auch ich die Stille, die Ruhe, nach der ich mich so sehne. Hier bestimmt nicht, je weiter weg, desto besser.
Aber ich begreife, dass mir meine Fantasien nicht helfen. Ich werde nicht nach Amerika kommen, wenn ich nicht selber etwas dafür tue. Deshalb werde ich jetzt den Spieß umdrehen. Anstatt mich von Papa beobachten zu lassen, werde ich ihn beobachten. Seine Schwachstellen kenne ich ja, immerhin ist er die halbe Zeit betrunken. Und eine Landwirtschaft, das ist ein gefährlicher Arbeitsplatz, da passieren viele Unfälle.
Es dauerte nur Tage, bis Alexandras positive Stimmung wieder mehrere Dämpfer versetzt bekam. Es begann mit Max. Mittwochs machte seine Klasse früher Schluss, und die letzten beiden Stunden waren Werken. Max baute in der Regel Fahrzeuge, Bagger oder Schubraupen zum Beispiel. Ganz egal, wie das Objekt aussah, ob es aus Pappe zusammengeleimt oder aus Holz genagelt war, fast immer schob er etwas auf dem Küchentisch herum und gab dazu brummende Geräusche von sich, wenn Alexandra etwa eine halbe Stunde nach ihm nach Hause kam.
Diesmal aber kein Max. Alexandra legte die Einkäufe auf die Küchenplatte und rief nach ihm. Er war wohl in sein Zimmer gegangen. „Max?“ Kein Geräusch. Unruhig geworden, stürmte sie die Treppe hinauf. Auch dort kein Max, weder in seinem noch in einem der beiden anderen Schlafzimmer. Garage, Keller, kein Max. Alexandras Herz begann zu rasen. Anton anrufen? Schule anrufen? Krankenhäuser? Schulweg kontrollieren? Schulweg! Sie raste aus dem Haus.
Keine drei Minuten später stand sie abgehetzt vor dem Schultor. Nachfragen? Natürlich! Sie klopfte am Lehrerzimmer. Da kam niemand! War denn das möglich? Neuerliches Klopfen, energischer. Endlich öffnete sich die Tür. „Sie müssen ja nicht gleich die Tür einschlagen!“, brummte die Lehrerin unwirsch, die öffnete. „Ich muss unbedingt Frau Tannhauser sprechen. Ist sie noch da?“ „Was gibt es denn Eiliges?“ Die Frau machte keine Anstalten, sich zu bewegen. „Mein Sohn ist nicht nach Hause gekommen!“, brach es aus Alexandra heraus, obwohl sie das eigentlich nur Frau Tannhauser hatte mitteilen wollen.
Die Lehrerin maß Alexandra mit skeptischen Blicken. „Da muss doch nicht gleich etwas passiert sein. Schauen Sie doch noch einmal …“ Alexandra verkrampfte sich. „Frau Tannhauser! Bitte!“ „Ich werde mich bemühen!“ Ein eisiger Blick traf Alexandra. Sie war sich dessen bewusst, dass die Lehrerin sie für eine hysterische Helikoptermutter halten musste. Sie machte sich selbst oft über Frauen lustig, die ihren Kindern jede Selbstständigkeit absprachen. Aber Max war noch nie mittwochs zu spät gekommen! Schulterzuckend kehrte ihr die Lehrerin den Rücken zu und schlenderte in aller Ruhe den Gang hinunter.
„Ja?“ Mit besorgter Miene kam Frau Tannhauser auf sie zu. Max’ Klassenlehrerin. Jung, aber mit kräftiger Stimme und einer allzeit bereiten senkrechten Falte auf der Stirn. „Max ist nicht nach Hause gekommen!“, stotterte Alexandra atemlos und schämte sich selber dafür, dass sie so hysterisch reagierte. Schließlich war Max schon fast neun Jahre alt und normalerweise zuverlässig. „Kommen Sie!“ Frau Tannhauser fasste sie an der Schulter und schob sie vor sich her. „Wir fragen seine Werklehrerin!“ Wenig später standen sie vor dem Werkraum, aus dem ohrenbetäubendes Hämmern dröhnte, selbst durch die geschlossene Tür. „Warten Sie einen Moment!“ Frau Tannhauser schlüpfte durch die Tür. Für einen Moment schwoll das Gehämmer auf Infernolautstärke an.
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