Auf dem Heimweg ließ sich Alexandra Barbaras Ratschläge noch einmal durch den Kopf gehen. Es klang ja alles sehr vernünftig – aber doch auch ziemlich theoretisch. Wie sollte man praktisch vorgehen, ohne dass man den Tag mit Heimlichkeiten und Lügen zubrachte? Ohne dass man dauernd überlegen musste, mit wem wie zu reden war?
Einmal wollte sie es zumindest ausprobieren. Sich etwas Extravagantes leisten, etwas, wonach sie im Internet gesucht, was sie insgeheim in Auslagen bewundert hatte. Schöne Schuhe waren eine Schwäche von ihr, aber keine, die sie bisher ausgelebt hatte. Am Ende kam sie doch immer wieder mit fahrradtauglichen Tretern nach Hause, in denen man zur Not auch ein paar Kilometer Gehsteig mit Anstand hinter sich bringen konnte. Vorsichtig schlich sie am Schaufenster vorbei, niemand sollte merken, dass sie die ausgestellten Schuhe genauer begutachten, sogar welche kaufen wollte. Konnte sie mit Sportschuhen überhaupt in so ein Geschäft? Sie konnte! Die Verkäuferinnen würden froh sein, Schuhe um ein paar Hundert Euro loszuwerden.
Tatsächlich allerdings maß die Verkäuferin Alexandra mit argwöhnischen Blicken, als sie das Geschäft betrat. Sie kam sich gemustert vor, von oben bis unten. Die Verkäuferin trug ein blaues Kostüm mit einem sehr kurzen Rock, engelsgleiche blonde Locken und, natürlich, ein paar von diesen sündhaft teuren Pumps. Die sind wahrscheinlich ohnehin nur geliehen, dachte Alexandra, schließlich ist sie nur eine kleine Verkäuferin und verdient weniger als ich selbst. Entschlossen zeigte sie auf die strassbesetzten graubraunen Pumps, die sie im Schaufenster gesehen hatte. Salvatore Ferragamo. Die Verkäuferin zog die Augenbrauen hoch. „Denken Sie …“ Alexandra holte tief Luft. Mit solchen arroganten Ziegen musste man Klartext reden. „Was ich denke, überlassen Sie lieber mir. Größe 38.“ Sie atmete tief aus, doch die Verkäuferin hatte die Botschaft verstanden und trippelte davon.
Wenig später zog sie den rechten Schuh aus dem Karton. Alexandra nahm den Schuhlöffel zu Hilfe, um in den Schuh hineinzugleiten. Es war tatsächlich ein ganz anderes Gefühl als in einem billigen Schuh. Trotz der Zierlichkeit des Schuhs schmiegte sich das Leder angenehm kühl an ihre Füße. „Den linken auch, bitte!“ Die Verkäuferin gehorchte wortlos. Ihr Rock war durch das Niederknien so weit hochgerutscht, dass Alexandra ihre Unterwäsche hätte sehen können, hätte sie Interesse daran gezeigt. Sie richtete sich auf. Die Verkäuferin würde sich wundern – vielleicht hatte sie geglaubt, einen Bauerntrampel vor sich zu haben, doch nicht umsonst hatte Alexandra während ihres Studiums zwar viel zu spät, aber dennoch mit Begeisterung jahrelang Ballett trainiert. Sie wusste sehr wohl, wie man auf High Heels eine gute Figur machte.
Und tatsächlich – als sie auf ihr Spiegelbild zuging, fühlte sie sich erhöht, nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn. Sogar der Verkäuferin entschlüpfte angesichts ihres Gangs ein „Wow!“. Über einen großen Wortschatz schien sie nicht zu verfügen. Um sie ein wenig zu beschäftigen, gab sich Alexandra zickig. „Hinten rutsche ich raus. Eine halbe Nummer kleiner, bitte!“ Schließlich stand sie dann doch mit den ursprünglich probierten Schuhen vor der Tür des Ladens und war um 310 Euro ärmer.
War es ein gutes Gefühl? Ja, das war es. Sie würde Freude daran haben, diese Schuhe zu tragen. Immer wieder. Am Ende war es vielleicht doch keine so schlechte Idee, reich zu sein.
Der Winter ist gekommen. Meine Brüste sind weiter gewachsen, ich werde bald einen BH brauchen. Die Haare zwischen den Schenkeln sind dichter geworden, aber noch immer habe ich meine Periode nicht bekommen. Mama spricht nicht mit mir darüber, alles, was sie für mich übrig hat, wenn sie mich im Bad nackt sieht, sind sorgenvolle Blicke und Seufzer.
Ich sperre jetzt ab, wenn ich bade oder dusche. Nicht nur wegen Papa, auch wegen Walter. Vor beiden habe ich Angst, beide werfen mir seltsame Blicke zu, die ich nicht zu deuten weiß.
Am liebsten bin ich in der Schule. Dort fühle ich mich sicher, obwohl manche mich wegen meiner billigen Kleider und Schuhe verspotten. Aber gegen die kann ich mich wehren, das habe ich durch Walter gelernt. Und ich bin schnell und groß – schneller als die meisten Buben in meiner Klasse und größer sowieso. Meine beste Waffe allerdings ist mein Mund. Ich weiß auf jede Gemeinheit eine Antwort und habe die Lacher auf meiner Seite. Nein, in der Schule bin ich sicher. Und es macht mir Freude, meine Hefte vollzuschreiben und das, was ich geschrieben habe, zu Hause durchzulesen. Lernen und üben muss ich nicht, es bleibt wie selbstverständlich in meinem Gedächtnis haften.
Ich weiß auch nicht, wie das möglich ist, dass die anderen dauernd alles vergessen. Manchen muss die Frau Professor Ellert fünfmal erklären, was man tun muss, um Zentimeter in Meter umzuwandeln. Das habe ich schon vor der Volksschule gekonnt, man braucht sich ja nur ein Maßband anzusehen, dann weiß man das. Aber in der Schule rede ich über solche Sachen nicht, auch nicht darüber, dass ich schon vor der ersten Klasse lesen konnte. Zuerst die großen Aufschriften über den Geschäften, bald danach alle Plakate und dann Bücher. Viele gibt es ja nicht bei uns zu Hause, aber es gibt eine Bücherei im Ort. In der ersten Klasse habe ich das ganze Regal mit den Büchern gelesen, die für Kinder bis zehn sind. Die Bibliothekarin hat geseufzt, als ich sie gefragt habe, was ich jetzt lesen soll.
Frau Professor Marinkovic, mein Klassenvorstand, weiß natürlich, dass bei uns zu Hause etwas nicht stimmt. Sie hat sicher auf Umwegen gehört, dass meine Brüder große Probleme in der Schule haben, beziehungsweise verursachen. Walter zettelt ständig Prügeleien an, Tobi dagegen ist ein Opfer der stärkeren Jungen. Ich lasse mir meist Zeit mit dem Nachhausegehen. Wenn dann zufällig die Frau Professor noch in der Klasse ist, während ich zusammenpacke, setzt sie sich manchmal neben mich und seufzt. Genau wie Mama. Der Unterschied ist nur, dass sie nicht nur seufzt, sondern auch mit mir redet und, vor allem, zuhört. Obwohl ich wenig zu sagen habe. Was sollte sie schon tun, wenn ich ihr erzähle, dass ich vor meinem Vater und meinem Bruder Angst habe?
„Wenn du über irgendwas reden willst, Alexandra, bei mir ist es in guten Händen. Ich behalte es bei mir, das solltest du wissen.“ Ich nicke. „Es gibt aber keine Probleme“, sage ich. Sie seufzt. „Das sagst du so. Aber es spricht sich ja herum, dass … dein Vater …“ Sie spricht den Satz nicht zu Ende. Ich zucke mit den Schultern. „Ich komme schon zurecht“, antworte ich und versuche, freundlich zu lächeln. Frau Professor Marinkovic seufzt. „Wenn du meinst … Aber versprich mir, wenn es jemals Probleme gibt, rede mit mir. Oder mit jemandem, dem du vertraust. Ich hab das Gefühl, du vertraust niemandem. Und weißt du, so hoch begabte Kinder wie du, die haben es in ihrer Umgebung oft nicht leicht. Nicht einmal, wenn …“ Sie lässt den Satz unvollendet.
Ich nicke, murmle einen Gruß und verdrücke mich aus dem Klassenzimmer. Warum soll ich ihr das Herz schwer machen mit meinen Sorgen? Glaubt sie, dass sie meinem Papa nur mit dem Finger drohen muss, und alles ist in Ordnung? Ganz im Gegenteil, wenn er mitkriegt, dass ich mit jemandem über die Familie gesprochen habe, dreht er durch. Und wer weiß, was dann passiert.
Wenn morgen meine Hausübung picobello in Ordnung ist, wird mir die Frau Professor schon verzeihen, dass ich so einsilbig war. Vertrauen. Ich weiß gar nicht recht, was das ist. Wie fühlt man sich, wenn man mit jemandem zusammen ist, dem man vertraut? Vielleicht hängt es mit Anspannung zusammen, und Angst. Zu Hause bin ich immer angespannt. Ist Papa in der Nähe? Was hat Walter vor? Will mir Mama wieder was vorseufzen oder herumjammern? Tobi, ja, dem vertraue ich. Aber er ist schwach, und gerade in seiner Nähe muss man besonders aufpassen, wenn Papa oder Walter dabei sind. Oft genug lassen sie ihren Zorn an ihm aus, und ich kann ihm nicht helfen.
Читать дальше