»Verstehen Sie etwa die Hundesprache?«
»Nicht wirklich, aber vieles kann man sich denken, wenn man lange mit Hunden zu tun hat und sie genau beobachtet. Hunde verständigen sich auch durch Körpersprache und bestimmte Bewegungen. Die lernt man bald, wenn man ständig mit ihnen zu tun hat. Sieh dir Chuck an, wie entspannt er auf uns wartet. Das bedeutet, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Es ist niemand in der Nähe, der uns schaden kann. Weder ein Elch noch ein wütender Grizzly, den jemand aus seinem Winterschlaf geholt hat. Oder Apache, der hinter Chuck läuft. Siehst du, wie nervös er sich bewegt? Er will so schnell wie möglich weiter. Zu viele Pausen mag er nicht. Er ist glücklich, wenn er laufen kann.«
»Also gut … ich versuch’s noch mal«, gab Johnny nach.
Julie setzte sich mit dem Gesicht nach hinten auf die Ladefläche, damit sie den Jungen besser beobachten konnte, und wartete, bis er auf die Kufen gestiegen war. »Okay, wie vorhin«, sagte sie, »aber halt dich beim Start besser fest und gehe leicht in die Knie, um den Ruck abzufedern. Los geht’s!«
Johnny trieb die Hunde mit einem lauten »Heya!« an und ging so vor, wie Julie es ihm empfohlen hatte. Wahrscheinlich gegen seinen Willen lächelte er stolz, als er durch den kräftigen Ruck, der durch den Schlitten ging, nicht von den Kufen geworfen wurde. »Heya! Heya! Vorwärts!«, tönte er übermütig.
»Du bist noch zu verkrampft«, rief Julie, »sei etwas lockerer und pass auf die Bodenwellen auf. Immer schön in die Knie gehen, wenn es holprig wird.« Er fuhr durch eine Schneedüne, die der Wind über die Straße getrieben hatte, und ging tief in die Hocke, beinahe zu tief. »Nicht übertreiben, Johnny!«
Die nächsten zwei Meilen lief alles glatt. Die Straße führte in sanften Windungen durch lichten Wald, und der Junge brauchte sich nicht einmal anzustrengen, um den Schlitten in der Spur zu halten. Chuck merkte wohl, dass ein Anfänger auf den Kufen stand, und sorgte selbst für das richtige Tempo. Solange Julie auf der Ladefläche saß, musste er sich benehmen, auch wenn sie ihm den Rücken zugewandt hatte und ihn nicht zu beachten schien. Aber der Zweibeiner auf den Kufen war anscheinend ihr Freund, und sie würde wahrscheinlich ziemlich wütend werden, wenn er noch einmal in den Schnee stürzte.
Wenige Meilen westlich des Sanctuary River ließ Julie den Jungen anhalten und deutete nach Norden. Hinter den Schwarzfichten, die sich dunkel gegen das arktische Zwielicht abhoben, ragte der Mount Wright empor, im Vergleich zum Mount McKinley eher eine sanfte Erhebung, aber besonders schwieriges Terrain mit zahlreichen steilen Hängen und schroffen Canyons.
»Der Mount Wright«, erklärte sie, »dort oben gibt’s keine Bäume mehr. Nur noch Tundra. Im Sommer ein einziges Blumenmeer und jetzt im Winter eine besondere Herausforderung für jeden Musher. Wollen wir’s versuchen?«
Johnny fühlte sich anscheinend herausgefordert. »Logisch.«
»Okay. Ich übernehme die erste Etappe, dann kommst du dran.« Sie stieg vom Schlitten und ging zu den Hunden. »Aber bevor du einen schwierigen Trail angehst, sprichst du besser mit deinen Hunden. Sie sind sehr sensibel, weißt du, und hätten es wahrscheinlich gerne, wenn man sie den ganzen Tag lobt. Am besten hilfst du mir, Johnny. Du willst doch wissen, mit wem du es zu tun hast.«
Johnny kam zu ihr und ging ohne eine abfällige Bemerkung neben ihr in die Hocke. Er grinste nicht mal. »Das ist Chuck, unser Leithund«, sagte sie und kraulte ihn ausgiebig zwischen den Ohren. »Zu ihm musst du besonders freundlich sein, denn er hat im Gespann das Sagen.« Sie wandte sich an den Husky. »Na, was sagst du, Chuck? Hat Johnny das nicht gut gemacht? Jetzt wollen wir mal sehen, wie er im Tiefschnee zurechtkommt. Bist du bereit?«
Natürlich war er bereit, und auch die anderen Hunde bewegten sich bereits unruhig. Sie strengten sich gerne an, nicht nur auf ebenen und geräumten Straßen. Kein anderes Tier tollte so gern im tiefen Schnee herum wie sie.
Julie wartete, bis der Junge auf der Ladefläche saß, und lenkte ihr Gespann über die Böschung. Der Trail zum Mount Wright lag zwischen verfilztem Gestrüpp versteckt und war im Halbdunkel kaum zu erkennen. Selbst die Huskys taten sich schwer, ließen aber nicht locker und zogen den Schlitten ruckweise durch das dichte Unterholz. »Heya! Heya! Gleich haben wir es geschafft!«, trieb Julie sie an. »Lass den Kopf unten, Johnny. Es ist nicht mehr weit.«
Doch es dauerte noch über eine Viertelstunde, bis sie den Waldrand erreichten und ihnen kein wucherndes Gestrüpp mehr den Weg versperrte. Erst im späten Frühjahr, wenn die Saison begann, würden die Ranger den Trail für die Wanderer räumen. Julie atmete erleichtert auf und folgte dem Trail, der über mehrere Hügelkämme verlief und sich weiter nördlich zwischen den Felsen verlor. Auf einem der Hügelkämme ließ sie das Gespann anhalten.
»Bin ich jetzt dran?«, fragte Johnny. Er konnte es anscheinend gar nicht erwarten, wieder auf die Kufen zu steigen. »Ich glaub, hier macht es mehr Spaß als auf der Park Road. Ziemlich coole Gegend hier oben … richtig wild.«
»Klar«, war Julie einverstanden, »aber zuerst sehen wir uns das da an.«
Sie hatten einen dieser seltenen Tage erwischt, an denen sich der Mount McKinley von seiner besten Seite zeigte. Noch waren sie zu weit entfernt, um das mächtige Bergmassiv in seiner ganzen Pracht zu sehen, aber die Sonne, die um diese Zeit schon am Nachmittag unterging, zauberte einen dunkelroten, beinahe violetten Schimmer auf seinen Gipfel und ließ ihn wie eine magische Fackel inmitten der Bergmassive der Alaska Range erstrahlen.
»Cool«, staunte Johnny, »und alles echt. Das glaubt mir keiner.«
Bevor es weiterging, schärfte Julie dem Jungen noch einmal ein, besonders aufmerksam zu sein und vorsichtig zu fahren, da es jenseits der Hügelkämme nach unten ging und der Trail zahlreiche Serpentinen beschrieb, bevor er den Grund einer kleinen Schlucht erreichte. »Pass auf, dass du mit dem Schlitten nicht vom Trail abkommst. Der Hang ist nicht besonders steil, aber wenn du im Tiefschnee landest, brauchst du einige Zeit, bis du wieder rauskommst. Außerdem liegen da ein paar Felsbrocken rum. Wenn du’s dumm anstellst, fliegst du gegen einen der Felsen und prellst dir ordentlich die Knochen.«
Das war zwar nicht gelogen, aber auch mächtig übertrieben. Tatsächlich erinnerte sie die Gegend an einen Trail in den White Mountains nördlich von Fairbanks, auf dem sie vor ihrer Zeit bei den Rangern einmal mit dem Hundeschlitten trainiert hatte. Ein gewundener Trail, schwierig genug, um einen Musher und seine Huskys herauszufordern, aber nicht wirklich gefährlich. Links erstreckte sich lichter Fichtenwald auf einem sanft ansteigenden Hang, rechts ging es etwas steiler nach unten, aber der Schnee lag hoch genug, um jeden Sturz abzufedern.
»Ganz vorsichtig!«, erinnerte sie Johnny, als sie losfuhren.
Diesmal blickte sie nach vorn, um den Trail im Auge behalten zu können, drehte sich aber öfter nach ihrem Schützling um und lächelte ihm aufmunternd zu. Sie erinnerte sich noch gut an ihre Highschool-Zeit, schließlich lag sie nur ein paar Jahre zurück. Die meisten Jungen waren gar nicht so cool, wie sie immer taten, und auch der ständige Protest gegen Lehrer und Erwachsene und das verächtliche Herabblicken auf Dinge, die nicht als männlich galten, fielen schnell in sich zusammen, wenn sie kein großes Publikum mehr hatten. Wäre ein Lehrer aus seiner Schule dabei gewesen oder noch schlimmer, ein Mädchen, hätte er den strahlenden Gipfel des Mount McKinley bestimmt nicht bewundert. Natur galt nicht als cool, es sei denn, man konnte mit einem Four Wheeler oder einem Mountainbike durch die Wildnis jagen. Nur Staunen war uncool. Zum Glück wurden die meisten dieser Machos auf dem College wieder einigermaßen normal.
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