Über die Geschlechterverteilung in der deutschen Szene gibt es meines Wissens keine aktuellen Studien. Die Ermittlungsgruppe Graffiti der Polizei Mannheim gibt 1999 an, dass männliche Jugendliche „mit mehr als 90 % den Hauptteil der aktiven Szene ausmachen“ (WILLMS 1999: 5). Auch qualitative Interviews aus den 90er-Jahren ergeben eine deutliche Dominanz männlicher Sprüher. So ist in DOMENTAT 1994b zu lesen, dass es in der deutschen Szene nur wenige Frauen gibt. Zudem hätten die Sprüherinnen in der Szene teilweise einen schweren Stand. Einige Sprüherinnen stellten zwar auch heraus, keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern bemerkt zu haben, andere sprachen vor DOMENTAT jedoch von Aktionen der männlichen Sprüher, die sie in den lokalen Szenen gezielt ausgrenzen sollten (DOMENTAT 1994b: 72f.).3
Umfassendere Erkenntnisse gibt es zu Frauen in den Londoner und New Yorker Szenen.4 2001 erschien MACDONALDS ethnographische Studie „The Graffiti Subculture: Youth, Masculinity and Identity in London and New York“, in der sie die männliche Dominanz in der Graffitiszene herausstellt und nach Erklärungsansätzen sucht.5 MACDONALD zeigte dabei u.a. auf, dass junge Frauen in stereotype Rollenklischees gedrängt werden, die sie als „timid, delicate little thing with absolutely no fear threshold and a tendency to burst into tears at the slightest hint of danger“ darstellten (2001: 130). Sich von diesem Bild zu befreien, habe sich für die jungen Frauen als schwierig erwiesen. Insgesamt stellte MACDONALD heraus, dass die männlichen Sprüher primär anhand ihrer Graffitis beurteilt worden sind, während bei den weiblichen Sprüherinnen auch stark das Erscheinungsbild bewertet wurde: „[M]ale writers tend to pay more attention to what the female writer does with her body than her spray can, that is, her sexual activities, rather than her subcultural ones.“ (MACDONALD 2001: 146f.)
Obwohl Sprüherinnen vermutlich bis heute in der Minderheit sind, sprechen sich die Autoren neuerer Publikationen insgesamt für eine Etablierung weiblicher Sprüherinnen in der Szene aus. Davon zeugt auch der Bildband „Graffiti Woman“ (GANZ 2008), in dem Graffitis weiblicher Akteurinnen aus der ganzen Welt zusammengestellt sind. In der Einleitung zu diesem Band spricht sich GANZ gegen die Vorstellung aus, Graffiti sei ausschließlich eine Männerdomäne (2008: 10):
Schon von Beginn an waren Frauen genauso aktiv, wenn auch in der Unterzahl. […] Die Graffiti-Literatur hat den Eindruck noch unterstützt, indem sie sich fast nur mit Männern beschäftigte. Eine wirklich umfassende Darstellung der weiblichen Graffiti- und Street-Art-Szene von ihren Anfängen bis heute wäre also ein hoffnungsloses Unterfangen, da es kaum eine Dokumentation gibt. (GANZ 2008: 10)
Nach GANZ gab es stets Frauen in der Graffitiszene, über die in Publikationen jedoch kaum berichtet wurde. PABÓN (2013) betont, dass insbesondere das Internet6 dazu beigetragen habe, dass Frauen in höherem Maße an den Szeneaktivitäten partizipieren:
The shift to the Internet is definitively reordering the dynamic of participation and visibility for female graffiti writers. With the availability of the Internet, female graffiti writers are not only performing their countercultural identities and demonstrating their belonging, but they are also building and sustaining their communities and crews through the openness enabled precisely by the technology itself. (PABÓN 2013)
Auch MACDONALD konstatiert in einem Beitrag von 2016, dass sich die Szenestrukturen seit ihrer Studie im Jahr 2001 verändert haben (191). Die internetbasierte Kommunikation mache es für weibliche Sprüherinnen besser möglich, sich zusammenzuschließen und auszutauschen. Des Weiteren habe sich seit 2000 die Street-Art stetig weiterentwickelt, die Frauen für das „urban art movement“ gewinnen konnte (MACDONALD 2016: 191).7 Künstlerisch ambitionierte Frauen würden eher im Bereich der Street-Art aktiv werden, weil diese Bewegung gegenüber Frauen toleranter sei und die „Männer nicht so sehr das Bedürfnis haben, ihre Männlichkeit hervorzuheben“ (GANZ 2008: 11).8
Zum Milieu, aus dem die Writer stammen, finden sich in der Graffitiforschung keine verlässlichen Informationen. SCHNEIDER gibt in ihrem Beitrag zur Graffitiszene im Sammelband „Leben in Szenen“ (HITZLER UND NIEDERBACHER (Hg.) 2010b) an, dass die Akteure tendenziell „überwiegend der Mittel- und Oberschicht“ entstammen und beschreibt den durchschnittlichen Bildungsstand als „überdurchschnittlich“ (71f.).9 Eine ähnliche Formulierung findet sich bei MÜLLER UND JÄGER: Diese beziehen sich in ihrer Studie zur Essener Graffitiszene auf die Aussage eines Jugendrichters, nach der die verurteilten Sprüher „nicht im Arbeitermilieu groß geworden“ seien und eher „der Mittel- und Oberschicht“ entstammen würden (1998: 230f.). Die Ermittlungsgruppe Graffiti der Polizei Mannheim gibt hingegen an, dass Writer aus allen gesellschaftlichen Schichten stammen und sowohl „in gehobenen Wohnvierteln als auch in Gebieten, die als soziale Problemzonen gelten“, wohnen (WILLMS 1999: 6). Dies deckt sich mit den Erkenntnissen von SNYDER (2016), der Feldforschung zum New Yorker Graffiti betrieb und feststellte, dass die Szene sehr heterogen zusammengesetzt ist und sich daher keine Kategorisierungen vornehmen lassen: Die Writer bilden eine „multi-class, race, ethnic, religious and lingual culture of younger and older people“ und definieren sich nicht über ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten, sondern über das Graffitisprühen (SNYDER 2016: 206).
2.3.4 Szenetypisches Vokabular
Bei der Beschäftigung mit dem Thema Graffiti fällt auf, dass in der Szene Wörter verwendet werden, deren Bedeutungen sich einem Laien nicht sofort erschließen. Aus diesem Grund findet sich in vielen Publikationen zum Szenegraffiti zunächst ein Glossar mit Erläuterungen zu Szenetermini wie Piece, Tag und Toy (z.B. in COOPER UND CHALFANT 1984). Diese Bezeichnungen sind Bestandteil einer Szenesprache. Als Szenesprachen werden hier mit ANDROUTSOPOULOS „sozial identifizierte Konfigurationen von Merkmalen aus verschiedenen sprachlichen Ebenen [verstanden], die sich spezifischen jugendkulturellen Praxisgemeinschaften zuordnen lassen“ (2005: 174).1 Im folgenden Abschnitt geht es primär um die besondere Lexik, die die Graffitiszene herausgebildet hat.
Da Tag, Throw Up und Piece sowohl für die Szene selbst als auch für diese Arbeit besonders relevante Bezeichnungen sind, werden sie im Folgenden kurz erläutert. Es handelt sich hierbei um Termini, „which are known to all graffiti writers“ (CASTLEMAN 1989: 26), denn mit ebendiesen wird in der Szene auf die Werke referiert. Die Termini werden von den Writern in Gesprächen und Interviews verwendet und sind damit ein wichtiger Bestandteil der Szenesprache.2 Darüber hinaus geben die Bezeichnungen auch Aufschluss darüber, „welche Eigenschaften innerhalb der Graffiti-Szene die Einordnung und Bewertung von Graffiti bestimmen“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 91).
Der Begriff Tag referiert auf die linienförmigen Realisierungen eines Graffitinamens. Tag kommt aus dem Englischen und hat eine Vielzahl von Bedeutungen, u.a. ‚Anhänger‘, ,Marke‘, ,Etikett‘ und ,Preisschild‘. Im übertragenen Sinn markieren Writer mit ihrem Tag also die entsprechenden Straßen oder Gebäude. Weil die Anbringung zügig erfolgen muss, werden Tags meistens in einer einzigen, viel geübten Handbewegung angebracht (VAN TREECK 1993: 148). Die Buchstaben sind oftmals wie bei einem Logo oder Monogramm ineinander verschlungen und zusammengerafft (BOWEN 1999: 24). Wie die Beispiele in Abb. 9 zeigen, bestehen Tags nicht nur aus Buchstaben, sondern auch aus weiteren Elementen.3
Abb. 9: Tags von EURO, TIGHT, RTA CREW, WORNONE EAST, FBS und CRACK (19939, 19542, 30466, 30314, 25768, 31332)
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