Es machte mir nichts aus, daß ich ein Leben der bittersten Entbehrungen lebte, eigentlich nährte ich mich nur von dem köstlichen Pariser Weißbrot und von gedörrten Pflaumen. Niemals habe ich in diesem Pariser Jünglingsjahr das Paris der Boulevards, das Paris der großen Vergnügungsstraßen, das Paris der entzückenden Umgebungen, geschweige denn das Paris der eleganten Leute auch nur mit einem Blick gesehen. Ein einziges Mal habe ich Montmartre gestreift. In Wien hatte ich einen jungen Sozialisten kennengelernt, der wie ich eine heroisch betonte Bewegung wünschte. Er wohnte bei seinen reichen Eltern in der Praterstraße und ist später der erste Dramaturg der Reinhardt-Bühnen geworden. Dieser junge Mensch war für einige Zeit nach Paris gekommen, um es zu genießen. Er wohnte in einem Hotel der großen Boulevards. Von dort schickte er mir einen Rohrpostbrief, ich möge ihn morgen Abend um neun Uhr mit unserem gemeinsamen Freunde Huber am Eingang des Moulin Rouge erwarten. Er gehörte nicht zu unserem törichten Mönchsorden und wollte uns offenbar etwas von den Reizen der Vergnügungsstadt zeigen. Wir fanden das freundschaftlich. Ich kann nicht leugnen, daß ich mich auf den Abend vorbereitete. Schließlich gab es auch in dieser schwärzesten Zeit meines Lebens noch immer eine Karl-Theater-Erinnerung in meinem Kopf. Wenn ich über den Place de la République ging und Straßensänger, von einem Geiger begleitet, ihre sentimentalen Chansons sangen, konnte ich auch damals nicht anders: Ich mußte stehenbleiben, und bei der zweiten Strophe mußte ich den Refrain schon mitsummen. Die Franzosen haben fast bis zum Kriege noch so etwas wie ein Volkslied gehabt. Die Chansonniers von Montmartre knüpften an die entzückende Tradition Berangers an. Noch um die Jahrhundertwende wurden in Paris Pierrot-Lieder gedichtet. Der Gassenhauer, der wirklich rüde Gassenhauer, der ein internationales Fabrikat darstellt, ist erst nach dem Kriege nach Paris importiert worden. Diese kleinen sentimentalen Straßenliedchen, von einer schmelzenden Geige begleitet, sind in diesem bittersten Jahr meines Lebens meine einzige musikalische Nahrung gewesen. Was das Moulin-Rouge-Erlebnis anlangt, mein Freund Huber hatte sich tagsüber sämtliche Flecken aus einem alten schwarzen Anzug herauszusäubern versucht, und ich wollte mit einem schwarzen Jackett protzen, das anzulegen ich noch keine Gelegenheit hatte. Wir standen um dreiviertel neun vor dem Moulin Rouge, die Flügel des großen roten Rades waren mit Lichtern besetzt, gelbe, rote, weiße Lichter schienen durch die Dunkelheit zu knallen. Wir Finsternis gewohnten Gäste aus Belleville standen da und warteten. Kutschen hielten, aus denen hellgekleidete Frauen stiegen, Pärchen schritten Arm in Arm an uns vorbei, und mancher Blick einer neugierigen Tänzerin glitt über uns wartende arme Teufel schnell hinweg. Es wurde neun, und es wurde halb zehn, allmählich begann es uns kalt zu werden. Huber guckte mich mit einem freundschaftlich spöttelnden Lächeln an, und ich sah ihn an, als ob ich sagen wollte: So ist die Bourgeoisie, nicht einen Abend soll man sich mit ihr einlassen … Als es zehn Uhr geworden war, drehten wir dem Moulin Rouge den Rücken und marschierten in unser schwarzes Gäßchen. Nicht einen Augenblick ist uns der Gedanke gekommen, auf eigene Faust das Moulin Rouge für uns zu erobern. In Gottes Namen, mit dem Wiener Führer wollten wir uns in den Strudel stürzen, aber wir zwei Melancholiker allein? Wir dachten nicht einmal daran.
In den ersten Tagen meines Pariser Aufenthalts ging ich die Seine entlang durchs Quartier Latin, um bei den Antiquaren, die hier ihre Holzgerüste aufgeschlagen haben, ein bißchen zu schnüffeln. Bücherwurm, der ich seit meinen Schülerjahren gewesen, vermutete ich hier allerlei Entdeckungen. Während ich bei einem Antiquar die Bücherhaufen durcheinanderbrachte, hörte ich plötzlich meinen Vornamen rufen: »Stefan«. Ich kann nicht sagen, was für eine jähe Freude mich durchfuhr, als ich plötzlich meinen Namen hörte. Ich drehte mich um, ein kleiner, hagerer, sehr fidel aussehender Mensch kam auf mich zu und sagte deutsch: »Ich habe Ihren Zunamen vergessen, ich weiß nur, daß Sie Stefan heißen.« Dabei schüttelte er mir die Hand, wie einem alten Freunde, und etwas Ähnliches ist er von diesem Tage an für mich geworden. Es war ein Buchhandlungsgehilfe aus Wien, der in der Buchhandlung gedient hatte, in der ich meine Reclambändchen zu kaufen pflegte. Er hieß Julius Bard und ist später ein großer deutscher Verleger geworden. Damals war er ein armer Teufel wie ich, aber er war nicht ideenverrannt, sondern froh und praktisch. »Wovon lebst du?« fragte er mich.
»Wenn ich das wüßte.« Ich hatte noch zehn Franken von Wien her in der Tasche. »Machen wir doch ein Antiquariat auf«, sagte Bard. »Du verstehst doch auch etwas von Büchern. Trachten wir hier, aus Bücherbergen Erstausgaben und dergleichen herauszufischen, und senden wir sie nach Wien an meine Buchhandlung, die antiquarische Bücher zu anständigen Preisen kauft.« Wir opferten jeder zehn Franken für das Geschäft und kauften für zwanzig Franken einen Stoß gut ausgesuchter hierher verirrter Erstausgaben. Nach einer Woche erhielten wir den doppelten Betrag aus Wien zugeschickt. Von diesen Entdeckungen bei den Bücherbudikern haben Bard und ich ein Jahr lang in Paris gelebt. Wir haben in jeder Woche zwei Forschungsreisen unternommen und so viel dabei gefunden, wie wir zu unserem bedürfnislosen Leben brauchten.
Alles wäre gut gegangen, wenn Huber mich nicht eines Tages von hohem Fieber geschüttelt, zu matt, um aufzustehen, in meinem Bett gefunden hätte. Es fiel mir nicht ein, einen Arzt holen zu lassen. Das Fieber entsprach meinem inneren Zustand, ich wollte gar nicht genesen.
Aber mein guter Huber saß allabendlich an meinem Bett. Am Morgen legte er in der fürsorglichsten Weise ein paar Nahrungsmittel auf denTisch, weißen leichten Käse, Obst, Schinken und eine große Flasche des langweiligsten Mineralwassers der Welt, Evian. Nach drei Wochen verließ ich das Bett. Als ich aufstand, war ich noch weißer im Gesicht als sonst und noch hagerer als vorher. Meine einzige Unterhaltung waren ein paar Zeitungen, die mir Huber regelmäßig brachte. Paris war damals mitten in den wildesten Aufregungen der Dreyfuskampagne. Kaum war ich halbwegs auf den Beinen, ich zitterte noch in den Knien, wenn ich die Treppe hinunterging, da beschloß ich, in die Kammer zu gehen, um Jaurès zu hören. Zweimal war ich vergebens dort, alle Eintrittskarten waren längst ausgegeben. Da vertraute ich diesen Wunsch meinem Freunde Bard an. Er lächelte verschmitzt und sagte: »Ach, du bist ja ungeschickt, auf normalem Wege können wir nie in die Kammer kommen. Ich hole dich morgen früh ab.« Am nächsten Tage fuhren wir auf dem Omnibusdach zur Kammer. Es war etwa eine halbe Stunde vor Beginn der Sitzung. Bard ging resolut auf die Pressetribüne los, er ließ durch einen Diener einen deutschen Zeitungskorrespondenten herausbitten und sagte ihm: »Wir können beide stenographieren, dürfen wir Ihnen nicht irgendwie heute nützlich sein?« Das Angebot wurde angenommen, wir wurden auf die überfüllte Tribüne geboxt, und ich hörte Jaurès zum erstenmal sprechen. Ich habe in meinem Leben viele berühmte Redner gehört. Ich habe Bebels hitzige Prophezeiungen vernommen, ich hatte das Glück, Viktor Adlers beißende Reden zu hören, ich habe Friedrich Naumanns Gedankenpathos genossen und Stresemanns wohldurchdachte Arien. Aber kein rethorischer Eindruck ist auch nur einen Augenblick mit der Urgewalt der Jaurèsschen Reden zu vergleichen. Der bärtige kleine Mann legte sich über das Rednerpult, und in seinen ausgebreiteten Armen schien er ein Meer zu tragen. Er war kein Redner, er war – ein tönendes Stück Natur. Die Wellen seiner pathetischen Empörung donnerten langsam heran und steigerten sich zu immer höheren Bergen. Und dann hatte er ein ganz leises Pianissimo. Seine Rede atmete, er stürmte vorwärts, und er sah sich um – die Stille zwischen den Gewittern war bezwingend. Jaurès, von Beruf Philosophiedozent, hat als Redner nie durch Bildung zu wirken gesucht. Er war ein Ethiker, ohne es zu wissen, und er wirkte ethisch, ohne es zu wollen. Sein französischer bon sens gab ihm eine instinktive Gliederung der Rede. Im Grunde genommen bestand seine rethorische Technik darin, daß er imstande war, seinHerz zu öffnen.
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