Als das Frühjahr und der Sommer sich meldeten, stand sie mit ihm vor den Weihern des Baumgartens und fütterte die Schwäne. Oder sie fuhr mit ihm auf der Fähre nach Troja. Durch die Tore der Schanzwälle und der Festungswerke gingen sie nach Pankraz hinaus und saßen mitsammen bei dem steinernen Gasthaustische im Garten, wo schon der einäugige Žižka in den böhmischen Kriegen gerastet hatte. Unweit erhob sich die Strafanstalt wie eine kleine Stadt im Feld und auf den Rasenplätzen arbeiteten die Gefangenen mit dem Spaten. Hinter den einstöckigen Häusern führte die Straße in das nahe Dorf und in den Wald. Die Melodien der Leierkästen mischte sich mit dem Getöne der Pappeln und der Telegraphenstangen. Ausflügler kamen, und die Fiaker warfen den handhohen Staub nach der Windseite. Manchmal kehrten sie auch in der Straßenschänke »Zum grünen Fuchsen« ein. Vor Jahren, als Severin noch ein Kind war, gab es hier ein vorzügliches Bier und eine gute Küche; auch viele Deutsche machten damals einen Spaziergang zu der Fuhrmannskneipe. Jetzt wurde hier Sonntag für Sonntag getanzt, und die rotweißen Fahnen flatterten über dem Haustor. Aber ein paar Schritte weiter lärmte ein Ringelspiel. Da setzte sich Zdenka zuweilen mit Severin in eine der goldenen Schaukeln und machte eine Reise. Ein Mann mit hohen Stiefeln schlug die Trommel, und die Kinder jauchzten. Die Musik spielte die Barkarole aus »Hoffmanns Erzählungen«.
Das waren köstliche Stunden für Zdenka. Sie bemerkte es kaum, wenn Severin unwirsch und einsilbig wurde und tröstete sich mit dem nächsten Lächeln, das er ihr gab. Aber als dann der Herbst hereinbrach und ihr Severin immer mehr entfremdete, war sie zaghaft wie nie. Es kam vor, daß sie ihn tagelang nicht zu Gesicht bekam. Still und mit traurigen Schritten ging sie nach Hause und setzte sich in ihr Stübchen. Auf dem großen Platz unter ihrem Fenster war es lebendig, nur die Dienstmänner faulenzten an den Ecken. Zdenka wartete, bis es ganz finster wurde. Erst spät am Abende machte sie Licht.
Mit einer unbegreiflichen und zwecklosen Grausamkeit hatte ihr Severin von Susanna erzählt. Mit kalten Augen forschte er in ihren Zügen nach dem Flämmchen der Eifersucht, während er mit breiter Deutlichkeit sein Abenteuer schilderte. Es mißfiel ihm, daß ihre Liebe so standhaft und unverletzt dabei blieb und daß kein Vorwurf ihre Lippen regte. Jenes Mädchen im Theater fiel ihm ein, das die Bewegungen Zdenkas hatte, und das Stück, in dem sie spielte. Wie stand sie damals schlank und zerbrechlich auf den Brettern und das Schicksal schüttelte sie! Aber nichts von alledem geschah. Nur ein Schmerz flog wie ein Gleitschatten über Zdenkas Gesicht, und er wußte nicht einmal, ob er sich täuschte.
Es kam jetzt immer seltener vor, daß sie einander sonntags trafen. Dann gingen sie meistens durch die Anlagen der Stadt, wo schon die kalten Herbstblumen brannten. Die eisernen Stühle im Stadtpark standen unbenützt in dem nassen Sand, und die Sodawasserbuden waren leer. Hie und da fuhren sie auch mit der Drahtseilbahn auf die Hasenburg hinauf. Zdenka blieb vor den Bildern des Kreuzweges stehen, wo jährlich in der Nacht auf den Karfreitag die Leute beteten. Dort war auch die Kapelle des heiligen Laurenzius. Von oben sah man die Stadt im Spätnachmittagsdunst, und ein träger Wind fegte die dürren Blätter langsam in die steinernen Regenrinnen der Wege. Zdenka trat mit dem Fuß auf die weißen Beeren, die von den Sträuchern auf die Erde rollten. Als Kind hatte sie sich immer über den kurzen Knall gefreut, mit dem sie zersprangen. Ein Soldat kam ihnen entgegen, der sich zu seinem Mädchen beugte und sie küßte. Zdenka ging neben Severin mit einer Seele voll Tränen.
Im Atelier des Doktor Konrad waren schon die Gäste versammelt, als Lazarus Kain und Severin eintraten. Ein Gewirr von Stimmen schlug ihnen aus dem Zigarettendampf entgegen, das ungewohnte Durcheinander deutscher und tschechischer Gespräche und das gezierte Lachen der Frauen. In einer Ecke waren einige auffallend gekleidete Modellmädchen um einen Tisch beschäftigt und unterhielten sich mit einem italienischen Würfelspiel. Nachlässig an den Türpfosten gelehnt stand die wunderbar schlanke Figur einer Dame im schwarzen Samtkleid neben der blonden Ruschena und sah zu. Severin erkannte sie sofort. Scharf und lebendig wie ein eben geschauter Vorgang stieg ihm ein Bild in der Erinnerung auf, an das er nun schon lange nicht mehr gedacht hatte. Als Schulbub im Jahr vor der Matura war er in den Ferien einmal vormittags über die Ferdinandsstraße gegangen, während gerade die elegante Welt ihre Promenade machte. Da war sie ihm aufgefallen mit der großen, blutroten Straußfeder auf dem Hut, in ihrer seltenen, kostbaren Schlankheit, mit dem lieblichen und gefährlichen Lächeln, das er nur einmal später auf einem Gemälde der büßenden Magdalena wiedergesehen hatte. Ein schöner junger Mann trat grüßend auf sie zu und küßte ihre behandschuhten Finger. Dieser Augenblick war ihm im Sinn haften geblieben und wurde jetzt wieder deutlich in ihm: die festtägig bewegte Straße, das glatte Geräusch der Gummiräder, mit dem die Kutschen über das Pflaster fuhren, und mitten im Gewühle der Menschen und der Toiletten jene Bewegung voll unnennbarer Gnade, mit der die Fremde dem jungen Dandy die Hand zum Kusse reichte. Später war er ihr noch manchmal begegnet, flüchtig und unaufmerksam, und dann lange nicht mehr. Sie war eine Sängerin des Nationaltheaters, die damals gerade auf der Höhe der Volksgunst stand. Jetzt erzählte ihm Kain, der seinen unverwandten Blick bemerkte, ihre Geschichte. Durch eine Krankheit, die sie von einem ihrer Liebhaber übernommen, verlor sie die Stimme. Sie versuchte noch ein paarmal ihr Glück bei den Bühnen der Provinz, bis es dann nicht mehr ging. Jetzt war sie wieder in Prag, und Kain hatte sie schon verschiedene Male in Doktor Konrads Atelier getroffen.
Es war nicht Sitte in diesem Kreis, daß die Gäste einander vorgestellt wurden. Jeder kam und ging nach Belieben. Als aber dann der Hausherr die Neueingetretenen begrüßte, bat Severin trotzdem, ihn zu der schwarzen Dame zu führen. Er stand vor ihr und verbeugte sich, als Doktor Konrad seinen Namen nannte. Er forschte in ihrem Antlitz nach der Anmut jenes Moments. Dann nahm er die Hand, die sie ihm reichte, in die seine und küßte sie. Sie sah ihm erstaunt in die Augen und lächelte. Aber es war nicht mehr das Lächeln, das er an ihr kannte. Ihr Mund war weiß und ohne Schminke und verzog sich ein wenig in einer gezwungenen Gleichgültigkeit.
Wo ist denn Ihr Hut mit der roten Straußenfeder? – fragte Severin.
O – meinte sie verwundert. Sie hob den Kopf und drehte ihn in der Runde, als ob sie sich auf einen Traum besänne. Dann sagte sie langsam, und ihre Worte hatten einen spröden, von einer leisen Heiserkeit verschleierten Klang:
Der Hut mit der roten Feder – der ist schon lange perdu –
Severin hielt sich den ganzen Abend über an Karlas Seite. Die Stimmung war allmählich immer lauter geworden, und die blonde Ruschena, geputzt und frisiert wie eine Puppe, holte ihre Mandoline. Die Modellmädchen hatten das Würfelspiel aufgegeben, sie saßen schwatzend bei Tische, aßen belegte Brötchen und schlürften den Sekt, den der Diener servierte. Lazarus Kain hatte sich zu ihnen gesellt und erzählte Anekdoten. Einige der Herren waren mit ihren Mädchen gekommen. Die saßen nun kauend in den bequemen Atelierstühlen und zeigten unter den kurzen Röcken ihre Beine. Ein unglaublich magerer Mensch im modischen Gehrock und mit noblen Allüren saß neben Doktor Konrad und weissagte den Gästen, die zu ihm kamen, der Reihe nach die Zukunft aus den Linien ihrer Hand. Auch Severin ging zu ihm hin und bat ihn darum. Der magere Mensch blickte ihn hinter den runden Brillengläsern forschend an und hielt seine Hand länger als die der andern vor sein Gesicht.
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